Heimat im Herzen

 

Das Geschichtsbild Schlesiens

von Ludwig Petry (1949)

 

 

Unverwischbar durch alle Wechselfälle der Menschengeschichte ist seit alters Schlesiens Antlitz von der Natur geprägt. Beiderseits der Oder dehnt sich die Ebene, die auf dem rechten Ufer in wechselnder Entfernung zu einzelnen Höhenrücken ansteigt, während sie auf dem linken, über Vor- und Mittelgebirge bis zum Bild des Hochgebirges sich verändert. Reich an Wasserläufen und Seen. An Bodenschätzen und siedlungsfreundlichen Flächen verkörpert es eine Welt in sich.

 

Zuerst die Vorgeschichte

 

Wie aber Oderebene, Landrücken und Gebirgszüge nach beiden Seiten über Schlesien hinausweisen, so war unser Land auch von jeher in größere geschichtliche Zusammenhänge hineingestellt. Schon sein ältester Siedlungsabschnitt, die Steinzeit, zeigt es im Ausstrahlungsbereich von Nachbarkulturen, die nacheinander von Süden und Nordwesten, von Osten und Südwesten in es hinüberwirken. In der Bronzezeit verrät es als Außenprovinz der nordillyrischen Kultur bereits die ersten Spuren einer an die natürlichen Waldgürtel sich anlehnenden Unterteilung stammesmäßiger Art. Die frühe Eisenzeit bringt vom Norden her die ersten germanischen Siedlungswellen, von Südosten einen Skytheneinfall, von Südwesten das Vordringen der Kelten; nach dem Kimbern- und Teutonenzug aber kommt das Land für ein halbes Jahrtausend zur Ruhe als Randbezirk des großen germanischen Wandalenreiches, von dessen Hauptträgern die Hasdingen nach Oberschlesien hineingereicht haben, währen die Silingen in Mittel- und Niederschlesien zum namengebenden Stamm für Schlesien geworden sind. Weist der politische Zusammenhang damals in der Hauptsache nach Nordosten, so der kulturelle nach Südwesten und Südosten, und die streckenweise der Oder folgende alte Bernsteinstraße stellt Schlesien bereits in den großen Handelszug von der Ostsee zur Adria hinein.

 

Selbständiges Piastenland

 

Als dann der Hauptteil der Silinger in der sog. Völkerwanderung das Land verließ, folgte dem Zwischenspiel hunnischer Einflußnahme auf die zurückgebliebenen Germanenreste im 7. Jahrhundert von Osten her das Einsickern der Slawen, der jüngsten Völkergruppe, die in die Geschichte Schlesiens eingetreten ist und die in friedlicher Nachbarschaft und Vermischung mit den germanischen Vorbewohnern manche Namensformen und kulturellen Errungenschaften von ihnen übernommen hat. Schon zeitig werden mindestens vier schlesische Teilgaue für uns erkennbar; ihr politisches Geschick entschied sich dadurch, daß zuerst dem südwestlichen Nachbarn in Böhmen, dann dem nordöstlichen in Polen die Zusammenfassung der bisherigen Kleinstämme zu einem größeren Staatswesen gelang, während sie in Schlesien aus eigenen Kräften nicht zustande kam.

 

So lebte das obere Oderland zunächst drei Menschenalter lang unter böhmischer Herrschaft, um dann für das ganze 11. Jahrhundert und das erste Drittel des 12. zum Zankapfel zwischen den Premysliden in Böhmen und den Piasten in Polen zu werden – ein Ringen mit politisch-kriegerischen Mitteln, in das oft genug auch die deutschen Herrscher als Oberherren oder Bundesgenossen eingriffen. Erst mit dem Glatzer Pfingstfrieden von 1137 kam es zu einer dauernden Waffenruhe, welche Schlesien bis zu den Sudeten bei den Piasten beließ; schon ein Jahr darauf aber leitete die polnische Reichsteilung einen neuen Abschnitt ein, welcher die im Bistum Breslau seit dem Jahre 1000 vorgeformte Sondertellung Schlesiens unterstrich: Die anschließenden Bruderkämpfe im polnischen Herrscherhaus endeten 1163 mit der Rückführung der ältesten Zweiglinie durch den kaiserlichen Vetter Friedrich Rotbart nach Schlesien; damit ward unser Land ein eigenes Fürstentum dieses Piastenzweiges, der seine Frauen nun regelmäßig aus deutschen Fürstenhäusern wählte, und öffnete sich selbst in zunehmendem Maße der großen deutschen Ostwanderung aller Schichten, vom Ritter und Geistlichen über den Händler und Bergmann zum Handwerker und Bauern.

 

Im Schmelztiegel deutscher Geschichte

 

In den 800 Jahren, die seitdem verstrichen sind, hat Schlesien eine Eigenart entwickelt, die weder durch seine wechselnde Zugehörigkeit zu benachbarten Staatswesen noch seine erkennbare Untergliederung in politisch-kulturelle Teillandschaften ernstlich verwischt werden konnte; es hat zugleich die Vorzeichen bestätigt, die ihm von der Natur und von seiner mehrtausendjährigen Vorgeschichte gegeben waren: Durchgangsland großer Bewegungen, die von außen nach ihm übergriffen – nach der staatlichen Seite hin mehr leidender Zuschauer, als formender Träger der Entwicklung, nach der kulturellen dafür um so stärker ein Brückenland nach allen Richtungen der Windrose, unter denen in mannigfachem Wechsel bald diese, bald jene Ader am lebhaftesten pulste, und ein Ausgleichsgebiet von Spannungen zwischen Nord und Süd wie zwischen Ost und West. Wenn die großen Einschnitte, welche die politische Geschichte Schlesiens seit 1138 in zweihundertjähriger Wiederkehr jeweils aufweist und an die ganz unwillkürlich jeder Rückblick sich anlehnt; der Übergang an Böhmen 1335, an Habsburg 1526 und an Preußen 1740 – Veränderungen bedeuten, die dem Lande vorwiegend von außen auferlegt worden sind, so sind sie doch zugleich in der kulturellen Entwicklung Schlesiens jedesmal begründet und vorbereitet, und aufs ganze gesehen zeigt das Land seit jenen Anfängen vor 800 Jahren , da zugleich zum ersten Male die schriftlichen Quellen ein helleres Licht über seine Zustände werfen und erstmals Landeskinder unmittelbar zu uns reden, die ununterbrochenen Spuren seiner Prägung durch den Schmelztiegel der deutschen Geschichte.

 

Siedlungswerk zur Hedwigs – Zeit

 

Als nach dem Beispiel des Großvaters und Vaters auch der junge Herzogssohn Heinrich 1186 eine deutsche Fürstentochter, Hedwig aus dem Hause Andechs-Meran, nach Schlesien heimführte, war das Land gerade im Begriff, dem breiten Strom deutscher Ostwanderer sich aufzutun, der für zwei Menschenalter aufs engste sich mit dem politischen Aufstieg des Breslauer Fürstenhauses verknüpfen sollte. Den Zisterziensern von Leubus, einer Neuschöpfung seines Vaters Boleslaus (vor 1175), folgten 1203 aus Hedwigs Jugendland die Nonnen von Bamberg und wieder 25 Jahre später trat die herzogliche Gründung Heinrichau dazu, drei Zisterziensersitze, die in weitem Umkreis als Musterwirtschaften wirkten und blühende Tochtergründungen in Schlesien und Kleinpolen zeitigten. In Hedwigs Gefolge hielten in wachsender Zahl deutsche Ritter ihren Einzug im Oderland, und ihr Gatte hat sich als tatkräftiger Förderer des jungen Deutschen Ritterordens bewiesen, der eben damals aus dem heiligen Lande vertrieben, am Ostsaume des Abendlandes ein neues Tätigkeitsfeld suchte.  Die Erschließung der Erzfunde im schlesischen Gebirge ward deutschen Bergknappen, der Güteraustausch mit den vorangeschrittenen Produktionsgebieten des Westens und Südens in immer ausschließlicherem Maße deutschen Kaufleuten anvertraut. Am breitesten aber ergoß sich zu friedlicher Durchdringung mit dem ansässigen Slawentum der Strom deutscher Bauern und Handwerker in das Land. War bis zum Ende des 12. Jahrhunderts der bescheidene wirtschaftliche Fortschritt nach Umfang und Gehalt lediglich dem Antrieb der  Verzehrerschicht – der Landes- und Grundherren – entsprungen, so vollzog sich nun mit der Verpflanzung des westlichen Gesellschaftsaufbaus nach Schlesien ein unverkennbarer Ruck in der Entwicklung, der das Land befähigte, den Vorsprung des Westens aufzuholen und künftig mit ihm Schritt zu halten. Während der deutsche Bauer als anspornender Lehrmeister des slawischen Nachbarn die Bewirtschaftung des schon besiedelten Raumes vertiefte und aus dem bisherigen Waldland einen mindestens ebenso großen Nahrungsraum dazugewann, brachte der bürgerliche Zuwanderer das eben sich ausbildende Städtewesen mit, das in den älteren Kolonialgebieten an Saale und Elbe den Kinderschuhen bereits entwachsen war.  Neben die klar erkennbaren ländlichen Formen des Straßen-, Anger- und Waldhufendorfs traten die schachbrettartigen Stadtanlagen mit dem großen viereckigen Marktplatz, dem „Ring“, als Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum, mit denen Schlesien beispielhaft für den ganzen weiteren Osten wurde. Dieses großzügige Siedelwerk aus weltlicher und geislicher Wurzel mit bürgerlichen und bäuerlichen Kräften schuf für Herzog Heinrich I. Die Voraussetzungen, sich politisch über seine piastischen Vettern zu erheben und ein Reich zu begründen, das von der Spree bis zum San und vom Sudetenkamm bis zur Warthe reichte. Ebenso trug diese Machtausdehnung umgekehrt das Ihre dazu bei, deutsche Siedler über Schlesien hinaus nach dem Osten zu führen und die Besten des werdenden Neustammes mitten im Aufbauwerk bereits vor weitere Aufgaben in den Nachbargebieten zu stellen.

 

Der Mongolensturm

 

In diesen Lenz des schlesischen Deutschtums fiel das Aprilgewitter des Mongolensturms von 1241. Zusammen mit den einheimischen Slawenkräften hat die junge Mannschaft der Zugewanderten mit ihrem Blute die neue Heimaterde bei Liegnitz verteidigt und ihre Treue zu Land und Herzog mit dem Tode besiegelt. Militärisch- politische Zusammenhänge jenseits der Karpathen und im fernen Asien haben die Mongolenflut ebenso rasch verebben lassen wie sie angeschwollen war – geblieben aber ist der Riß, der seitdem zwischen der politischen und der volklich-kulturellen Entwicklung des Oderlandes klafft. Das Großreich der beiden ersten Heinriche ist für immer zerfallen, das zersplitterte Schlesien ist gar bald aufs neue zum Spielball der erstarkenden Nachbarmächte, vor allem Böhmens und Polens, geworden und hat es eigentlich nie mehr zu einer bestimmenden politischen Rolle gebracht. Die greise Herzogin Hedwig, welche die Mongolenschlacht überlebt hatte, hat noch den Anfang des Niedergangs im eigenen Hause mitansehen müssen. Als sie 1267 heilig gesprochen wurde und in Leubus die Mönche in ihrer Lebensbeschreibung die erste uns erhaltene Dichtung des Landes schufen, da war allein Niederschlesien in drei Teilfürstentümer aufgespalten, um wenig später bereits in sieben Kleinstaaten zu zerfallen. Vermochten die leiblichen Enkel so das politische Erbe nicht zu bewahren, um so treuer hielten dafür die Landeskinder das kulturelle Erbe hoch, das ihnen wie ein Vermächtnis der verehrten Landesmutter erschien: die Aufgabe, Schlesien zu einem bleibenden Gefäß abendländisch-deutscher Gesittung zu machen.

 

Neue Blüte nach dem Unwetter  

 

Das Siedelwerk ward unmittelbar nach dem Mongoleneinfall mit erhöhtem Eifer wieder aufgenommen. Trieb die Kette von Bruderkriegen die schlesischen Teilfürsten zu verstärkter Ansetzung deutscher Ritter, so verlangte der Aufbau der zerstörten Orte und Fluren und der Wunsch nachhaltiger Nutzung der neuen Zwergstaaten ebenso gebieterisch die planmäßige Fortführung und Steigerung der begonnenen Stadt-Land-Siedlung. Die Stadt, absichtsvoll als Handels- und Gewerbezentrum in einem Umkreis deutsch-rechtlicher Dörfer hineingestellt, dem sie zugleich Gerichtsmittelpunkt wurde: das ergab die sogenannte Weichbildverfassung, die neben Schlesien als Kernbezirk auch in der Oberlausitz, in Nordostböhmen und Nordmähren uns begegnet und auch für die kirchliche Untergliederung als Anhalt willkommen war. Aus dem Brandschutt der Kaufmannsiedlung neben Dom und Herzogsburg erstand, mit Magdeburger Recht bewidmet, verjüngt das bürgerliche Breslau, die weiträumigste Stadt des deutschen Ostens überhaupt, Oberhof und Wirtschaftspartner für zahlreiche Schwesterstädte weit über Schlesiens Grenzen hinaus. Und ebenso stellte der dörflichen Kolonisation der Nachbargebiete das Oderland bereitwillig die im eigenen Bereich erprobten Siedelmeister, die sogenannten Lokatoren. Als ein Jahrhundert nach dem Mongolensturm das vielseitige Siedelwerk verebbte, waren rund 120 Städte und an 1200 Dörfer in Schlesien neu geschaffen und das Bild der slawischen Zeit in jeder Hinsicht gewandelt. An die Stelle der dünnen, unfreien Landbevölkerung, die mit dem hölzernen Pflug sich abmühte, nur ungeregelte Feldgraswirtschaft, keine regelmäßige Düngung, kaum Obst- und Gemüsebau kannte und allen handwerlichen Bedarf aus eigenem Können bestreiten mußte, war ein selbständiges, zahlreiches Bauerntum mit günstigem Erbzinsrecht und vorteilhafter Dreifelderwirtschaft getreten, das sich der Eisengeräte bediente, Viehzucht, Obst- und Gemüsebau verbesserte und seine arbeitsteilige Entlastung in dem Bürgertum der neuen Städte fand als dem Träger der gewerblichen Produktion und des Warenhandels. Wein- und Hopfenbau, Metallförderung und Glashüttenwesen, Mühlentechnik und Backsteinbau hatten im Gefolge der Deutschen ihren Einzug gehalten. Durch die gleichläufige Erschließung der böhmisch-mährischen Randgebiete und durch die Weitergabe der neuen Errungenschaften auf den nach Oberungarn, nach Klein- und Großpolen wie nach dem Deutschordenslande ausstrahlenden Straßen sah Schlesien sich seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in Länder verwandten Lebens eingebettet.

 

Schlesien als Kronland Böhmens

 

In demselben Zeitraum, in dem die deutsche Besiedlung zu ihrem Höhepunkt anschwoll und in langsamem Abebben von Westen nach Osten ausklang, reifte auch die politische Entscheidung über das künftige Geschick Schlesiens heran. Noch einmal zog ein Breslauer Teilfürst – der Minnesänger Heinrich IV. - als Herrscher im deutschbevölkerten Krakau ein; nach dem Aussterben des Breslauer Zweiges versuchten von Oppeln und Glogau aus schlesische Piasten mehrfach, politisch auf dem östlichen Nachbarboden Fuß zu fassen; beherrschend warf auch eine Zeitlang das 1306 erlöschende böhmische Königshaus seinen Schatten über Schlesien hin bis auf die polnischen Kerngebiete – dann aber kam es zu böhmischen Thronwirren, in Polen zu einer neuen Einigung, und die kleinen schlesischen Machthaber, deren wir schließlich 18 nebeneinander zählen, suchten Anlehnung teils bei dem westlichen, teils bei dem östlichen Nachbar, teils auch bei den führenden Fürstenhäusern des Deutschen Reiches, den Askaniern, Wittelsbachern und Habsburgern, mit denen mannigfache Familienverbindungen zustande kamen. Das Ringen des polnischen Königshauses mit dem neuen  Herrn von Böhmen, dem Luxemburger Johann, in das auch Ungarn und der Deutsche Ritterorden mehrfach eingegriffen, endete schließlich 1335 mit dem später noch zweimal bestätigten Vergleich von Trentschin, durch den Johann von Böhmen gegen eine Geldzahlung auf weitergehende Ansprüche verzichtete und als Oberherr der schlesischen Fürsten anerkannt wurde, die inzwischen schon fast alle ihm als Lehensträger gehuldigt hatten. Johanns Bevollmächtigter aber bei diesen Verhandlungen war sein Sohn und Erbe Karl, der mit der Würde des Königs von Böhmen und Oberherzogs von Schlesien bald die des deutschen Kaisers vereinigen sollte und durch seine Heirat mit Anna von Schweidnitz 1353 diese schlesische Fürstentochter auf den ersten Thron der Christenheit erhob. Der Westen mit seiner älteren Kultur, dem unser Land seit fünf Menschenaltern sich weit geöffnet hatte, war somit auch auf politischem Felde zum entscheidenden Magneten geworden, und mit dem Trentschiner Vertrag, der das politische Siegel unter eine längst eindeutige geistige und wirtschaftliche Befruchtung setzte, gewann zugleich eine Staatsgrenze ihre volle Kraft – Schlesiens Nordost- und Ostgrenze gegenüber dem polnischen Königreich - , die mit geringfügigen Verschiebungen noch vor dem Ende des Mittelalters sich als eine der dauerhaftesten politischen Grenzen Europas bis in unsere Tage erweisen sollte.

Wie unter Heinrich I., so erlebte nun Schlesien auch unter dem kaiserlichen Oberherrn Karl IV. eine Periode, in der sich politische Beruhigung und kulturelles Aufblühen aufs engste miteinander verbanden. Nicht zufällig brachte das selbe Jahr 1348 die feierliche Einverleibung Schlesiens als Kronland in das böhmische Königreich und die Gründung der ältesten deutschen Universität in Prag, an der gerade die Schlesier im weiteren Verlauf des Jahrhunderts eine maßgebende Rolle spielen sollten. Die nächsten Jahre schufen mit Landfriedensordnungen und Handelserleichterungen im eigenen Staatswesen wie in den Nachbarländern die Voraussetzungen für einen großartigen Aufstieg der schlesischen Kaufmannschaft, der seinen sinnfälligen Ausdruck im Beitritt Breslaus zum großen Hansebund und in den ersten Bemühungen um eine Neubelebung der verfallenen Oderschiffahrt fand. Dieselbe Mittler- und Schlüsselstellung wie im Warenverkehr bewies Breslau auch in den mannigfachen Verästelungen des Rechtslebens zwischen dem Mutterland und den kolonialen Jungländern: wie schon im 13. Jahrhundert das Berg- und Fischereirecht des neugeschaffenen Ordenstaates sich eng an schlesische Vorbilder anlehnte, so fand nun die unter dem Namen „Breslauer Systematisches Schöffenrecht“ nach 1352 veranstaltete Sammlung von Magdeburger Schöffensprüchen fast wörtliche Aufnahme in dem preußischen Rechtsbuch des „Alten Kulm“. Geistlicher Oberhirte Schlesiens aber war über drei Jahrzehnte das Landeskind Preclaus von Pogarell, Hofkanzler des Böhmenherrschers und erster Vertreter des neuen Prager Frühhumanismus in seinem Sprengel, der unter ihm den Ehrennamen eines „Goldenen Bistums“ führte. Wenig wog demgegenüber die Enttäuschung, daß die kirchliche Umgliederung Schlesiens aus dem bisherigen Verband des Gnesener Erzbistums in das neugeschaffene von Prag nicht zustande kam. Der römischen Kurie war viel an der Weiterleistung des Peterspfennigs gelegen, der im Bereich der alten polnischen Kirche eingefordert wurde, und so blieb die überholte kirchliche Bindung von Breslau an Gnesen formell noch bis in die preußische Zeit und über die Aufteilung Polens hin fortbestehen, ein gespenstisches Überbleibsel eines längst verblaßten Zusammenhangs in gänzlich veränderter Zeit.

 

     

Hussitennot

 

Schon bald nach dem Tode Pogarells (1376) und Karls (1378) traten die ersten Anzeichen eines politischen Wandels und Niederganges auf, der Schlesiens Geschicke im folgenden 15. Jahrhundert weithin unter das Vorzeichen ernster, auch für die kulturelle Entwicklung nicht gleichgültiger Bedrängnis stellen sollte. Zu der territorialen Zersplitterung in Schlesien selbst als einer bleibenden Mitgift seiner Geschichte, trat die Schwäche und anderweitige Bindung seiner Prager Oberherren, der Angriff des neuen polnisch-litauischen Doppelreiches auf den Deutschen Ritterorden und des tschechischenHussitentums auf das Deutschtum Böhmens und seiner Nachbarländer. Dem Auszug der deutschen Studenten aus Prag und der Gründung der Universität Leipzig unter dem schlesischen Rektor Johann Ottonis aus Münsterberg 1409, folgte unmittelbar der erste Zusammenbruch des Deutschordensstaates in der Schlacht bei Tannenberg 1410. Der deutschen Königswürde schon entkleidet, zeigte sich Schlesiens Oberherr Wenzel auch zur Beschwörung der in Böhmen aufbrechenden Gegensätze unfähig. Noch sonnte sich Breslau 1420 im Glanze des einzigen Reichstags, der in seinen Mauern stattfand, berufen von seinem neuen Herrn, Wenzels Bruder Siegmund, um den Kreuzzug des Reiches gegen die aufständischen Hussiten in die Wege zu leiten; aber das klägliche Versagen des mehrfach aufgebotenen Reichsheeres lenkte den Vergeltungsdrang der gereizten „Ketzer“vorwiegend auf das uneinige und kaum geschützte Oderland, das von 1425 an ein volles Jahrzehnt unter ihren unablässigen Plünderungszügen und dem Druck ihrer im Lande selbst eingerichteten Stützpunkte zu leiden hatte. Nicht nur, daß der rege Handel mit Oberdeutschland zu einem weiten Umweg um das unruhige Böhmen herum gezwungen war, auch auf dieser Umgehungsstraße sah er sich immer wieder in die Enge getrieben und gestört, wie auch nach den östlichen Märkten hin der Kriegszustand zwischen Polen und dem Ritterorden sowie Zölle und Zwangsmaßnahmen in den Städten Polens dem schlesischen Fernkaufmann einschneidende Beschränkungen auferlegte.

Der Vergleichsfriede mit den Hussiten sollte dem gequälten Lande noch keine bleibende Erleichterung bringen: Das Aussterben der Luxemburger (1437) und der zweimalige kinderlose Tod eines habsburgischen Nachfolgers stellte das Staatsgefüge der Wenzelskrone ernsthaft in Frage und die schlesischen Stände immer wieder vor weitgreifende Entscheidungen. Als der Vormund des jungverstorbenen Ladislaus, der Tscheche Georg von Podjebrad, durch die böhmischen Herren auf den verwaisten Thron erhoben wurde (1457), fand er in dem zerissenen Schlesien manche Ansatzpunkte zur Begründung einer eigenen Hausmacht und zur Überfremdung der Verwaltung mit einer tschechischen Amtssprache, entschlossenen Widerstand dagegen in erster Linie bei der rechtgläubigen, weitblickenden Bürgerschaft der Landeshauptstadt, welche die verhaßte Huldigung immer wieder hinauszuziehen wußte. Für einige denkwürdige Jahre ward Breslau zum Angelpunkt und Kern eines vom Papst geleiteten europäischen Bundes gegen den „Ketzerkönig“, eine politische Rolle, die freilich auf die Dauer über seine Kräfte ging und die es mit einer neuen Krise seiner Wirtschaftsstellung  bezahlen mußte. Denn wieder gesellte sich zu der Bedrohung von böhmischer Seite her die Abschnürung auch der östlichen Handelswege durch den gleichlaufenden neuen Krieg zwischen dem Hochmeister, seinen unbotmäßigen Städten und dem Polenkönig.

 

Im Schatten böhmisch-ungarischer  Politik

 

Eine Klärung bahnte sich erst an, als Podjebrad 1471 starb und das Ringen um sein Erbe acht Jahre später seinen Abschluß im Ölmützer Frieden fand, durch den zwar ein Prinz aus dem polnischen Herrscherhaus als böhmischer König und damit als westlicher Nachbar Schlesiens anerkannt wurde, dieses selbst aber zum Oberherren den Ungarkönig Matthias Corvinus erhielt. In der Gestalt von Matthias gewann nicht nur eine bisher kaum bedeutsame Linie der politischen Windrose – die Verbindung nach Südosten – prägende Kraft für Schlesiens Geschichte, sondern das zu eigener Sammlung unfähige Land erlebte in diesem Zwingherrn zur Einheit auch den ersten modernen Herrscher, der im Verwaltungs- und Finanzwesen die Grundlage für die neuzeitliche Entwicklung legte. Auch bei Matthias richtete der Tod ohne legitimen Erben noch einmal ein großes Fragezeichen über der Zukunft des schlesischen Nebenlandes auf. Durch die Erwerbung der Stephanskrone gebot sein böhmischer Nebenbuhler auf dem Umweg über Budapest nunmehr auch über Schlesien, und im Schnittpunkt dreier jagellonischer Königskronen schien die politische Zugehörigkeit des Landes zum Deutschen Reich weiterhin verblassen zu sollen. Das Auseinanderleben des böhmisch-ungarischen und des polnischen Jagellonenzweiges jedoch und die Erbverbrüderung von 1515 zwischen jenem und den österreichischen Habsburgern leiteten die Rückwendung zu der politischen Konstellation von 1438/39 ein, wo schon einmal im Zuge des Erbrechtsgedankens ein Habsburger die ungarische, böhmische und deutsche Königskrone auf seinem Haupt vereinigt hatte, das sicherste Unterpfand für eine dem deutschen Antlitz Schlesiens gemäße Entwicklung auch der staatlichen Zusammenhänge.

 

Und doch im Kreislauf deutscher Kultur

 

Das geistige, künstlerische und wirtschaftliche Leben in Schlesien während des ausgehenden Mittelalters ist auf der einen Seite ein verständlicher Spiegel der wechselnden politischen Kräfte, die auf es einzuwirken suchten, zugleich aber auch ihr eindrucksvolles Gegenbild in dem eindeutigen Festhalten des schlesischen Stammes an seinen deutschen Wurzeln und an dem ungebrochenen Zusammenhang mit der gesamtdeutschen Entwicklung, der seine unaufgebbare Lebensluft bedeutete. Die Fürsten, die ihren Verwaltungsapparat und ihr Steuerwesen nach deutschem Vorbild einrichteten, waren in ihren besten Vertretern zugleich Förderer von Kunst und Wissenschaft; im geistlichen Bereich vertieften nicht nur die Bildung der Landdekanat nach Meißener Muster, sondern auch die überwiegend an deutsche Ordensprovinzen angeschlossenen Klöster den Zusammenhang mit den westlichen Nachbargebieten. Das Bildungswesen fand an der Geistlichkeit und der Bürgerschaft seine Hauptstütze: Rund 90 Stadtpfarrschulen waren in Schlesien bis zum Ausgang des Mittelalters ins Leben getreten und was auf dem Lande an bescheidenen Ansätzen eines Schulwesens sich regte, ging gleichfalls auf deutsche Wurzeln zurück. Das schlesische Gewerbe stand durch die regelmäßige Gesellenwanderung aufs engste im Blutkreislauf des deutschen Lebens drin und steuerte Eisenwaren und Textilien, Leder- und Pelzprodukte, Bier und Glas als namhaften Beitrag zur Ausfuhr des Landes bei. Die patrizische Oberschicht aber befand sich in unablässigem Bildungs- und Güteraustausch mit den führenden Städten des Mutterlandes, der generationenlang durch kaufmännische Zuwanderung und zu Ende des Mittelalters besonders durch das Einströmen oberdeutschen Kapitals unterstrichen wurde. Bürgerlichem und geistlichem Unternehmungssinn entsprang der Plan, in Breslau eine Universität zu begründen, der 1505 auch die Genehmigung des königlichen Oberherrn fand, dann aber an dem Widerstand des um Krakau besorgten Polenherrschers scheiterte. Außerhalb der Staatsmauern aber erlebte das ausgehende 15. Jahrhundert einen Neuaufschwung der Edelmetallförderung und des Glashüttenwesens, an zahlreichen Stellen des Flachlandes dazu die Schaffung von Eisenhämmern, deren Meister ausnahmslos Deutsche waren. Die Landbewohner hatten von der rechtlichen Besserstellung der Siedlerzeit und ihren wirtschaftlichen Errungenschaften so viel zu bewahren gewußt, daß Schlesien den in Mittel- und Süddeuschland so häufigen Bauernunruhen keinerlei Nährboden gewährte. Aus einem Bauerngeschlecht des Neißer Landes, das in Krakau und Thorn zu bürgerlicher Nahrung aufstieg, entstammt an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit der größte Sohn des damaligen Ostdeutschlands, der Schöpfer unseres astronomischen Weltbildes, Nikolaus Kopernikus. An Bedeutung weit hinter ihm, aber für die kulturellen Wechselbeziehungen zwischen Schlesien und seinem östlichen Vorfeld nicht minder bezeichnend, ist die Gestalt des gleichzeitigen Bischofs von Breslau, Johann V., eines weltoffenen Förderers des neuen Humanismus, aus dem Zipser Kaufmannsgeschlechts der Thurso, der über die Würden  eines Domherrn in Krakau, Posen und Gnesen aufstieg, während ein Bruder Bischof von Ölmütz wurde, zwei weitere Brüder schlesische Standesherrschaften erwarben und der vierte als Partner der Fugger im ungarischen Kupferhandel zu Weltruf gelangt ist. Noch einmal leuchtet an solchen Gestalten die Schlüsselstellung Schlesiens und seine kulturelle Verflechtung mit den Nachbargebieten auf, wie sie durch die große deutsche Ostwanderung des Mittelalters begründet wurde, überschattet nun freilich schon von einschneidenden Wandlungen auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet: der nahenden Türkengefahr, welche die alten Handelswege nach dem Balkan und dem Schwarzen Meer immer wirksamer unterband, und den Entdeckungsfahrten  nach Übersee, welche zu einer völligen Verlagerung der Weltverkehrsstränge führten und das schon im eigenen Bereich mit dem Stapelrecht der Städte Polens wie mit der Übergehung durch die oberdeutsche Konkurrenz schwer ringende schlesische Bürgertum vollends an den Rand des Abendlandes drängen sollten.

 

Der schlesische Fürstenkreis

 

Von dem angestammten Piastenhause, dem die Bestimmung der schlesischen Geschicke immer mehr entglitten war, überlebten nur drei Linien noch das Mittelalter, die Teschener, die Oppelner (die selbst schon vor dem Aussterben stand) und die Liegnitz-Brieger. Neben ihnen nahmen einen beträchtlichen Raum  die sogenannten Erbfürstentümer ein, d.h. die der Krone unmittelbar unterstehenden Gebiete. Einheimische Adelsgeschlechter und solche aus Böhmen und Ungarn hatten sich an verschiedenen Stellen in den Besitz kleinerer Territorien und Standesherrschaften gesetzt. Eine gewichtige Stimme im Kreise der schlesischen Stände führte die Landeshauptstadt Breslau, die über die Hauptmannschaft ihres Erbfürstentums verfügte, zweiter Sitz des böhmischen Reiches, an Einwohnerzahl die fünftgrößte deutsche Stadt, an Bedeutung und Bewegungsfreiheit sehr wohl den freien Reichsstädten vergleichbar, selbstständig neben ihrem bischöflichen Nachbarn stehend, dessen Residenz Neiße im sogenannten Bistumslande war. Unübersehbar waren aber auch die reichsdeutschen Fürstenhäuser, die zu Ende des Mittelalters in Schlesien Fuß gefaßt hatten: Die den alten Handelszug der „Hohen Straße“ beherrschenden wettinischen Nachbarn, die in den Besitz von Sagan gelangt waren – die aus kleinstaatlicher Enge nach einem östlichen Wirkungskreis drängenden fränkischen Hohenzollern, deren einer – Georg – als einflußreicher Ratgeber am ungarisch-böhmischen Königshof die schlesischen Herrschaften Jägerndorf und Oderberg sowie die Anwartschaft auf Oppeln erworben hatte, während sein Bruder Albrecht als Hochmeister die Umwandlung des Deutschordensstaates in ein weltliches Herzogtum betrieb, und schließlich ihre märkischen Vettern, die sich von Nordwesten her mit dem Gewerbe von Krossen, Züllichau, Sommerfeld und Bobersberg nach Schlesien hereinschoben und ihre Einbürgerung in den schlesischen Fürstenkreis durch eine Erbverbrüderung mit den Liegnitzer Piasten zu unterbauen strebten. Das politische Augenmerk , das so auf Schlesiens westliche und nordwestliche Anrainer sich richten mußte, empfing nun eben an der Schwelle der neuen Habsburgerzeit ein ungeahntes Gewicht durch das Lauffeuer der Wittenberger Reformation, das an den Grenzen des Oderlandes so wenig Halt machte wie anderwärts im deutschen Osten und von der geistigen Seite her erneut die deutsche Art als den Mutterboden schlesischer Geschichte erwies. Mit der evangelischen Lehre, den Fürstenhäusern Hohenzollern und Wettin und dem neuen Herrschergeschlecht der Habsburger sind zugleich die auswärtigen Kräfte bezeichnet, deren Zusammen- und Gegeneinanderwirken die Geschicke Schlesiens in den folgenden Jahrhunderten bestimmen sollte.

Unter der Krone von Habsburg

 

In dem Habsburger Ferdinand I. gewann Schlesien nach dem Ende des böhmisch-ungarischen Jagellonenstammes auf dem Schlachtfeld von Mohatsch einen Oberherren, der im Ausbau der Zentralgewalt das Werk des Matthias Corvinus aufnahm und geschickt fortführte. Der drohenden Türkengefahr und der bereitwilligen Aufnahme der Lehre Luthers durch den Breslauer Rat und fast alle schlesischen Fürsten trug er Rechnung, indem er den Nachdruck auf die Durchsetzung seiner militärisch-finanziellen und verwaltungspolitischen Forderungen legte und von Eingriffen auf kirchlichem Gebiet fast völlig absah. Schon auf der Huldigungsfahrt von 1527 erreichte er vom schlesischen Fürstentag die Bewilligung einer allgemeinen Landessteuer als Türkenhilfe, die seit 1552 sogar zu einer jährlichen Abgabe wurde, und 1529 folgte ein erstes schlesisches „Defensionswerk“. Dem unbequemen Markgrafen von Jägerndorf wußte er zu begegnen, indem er seine Nachfolge in Oppeln, Oderberg und Beuthen in eine zeitlich begrenzte Pfandschaft verwandelte und in Jägerndorf selbst die unbotmäßigen Landstände gegen ihre Herren stützte. Die Erbverbrüderung der Liegnitzer Piasten mit den Berliner Hohenzollern zerschlug er bei dem Fürstentag von 1546; die Wettiner entfernte er durch den Ankauf von Sagan ganz aus Schlesien. Die durch ihre Doppelbedeutung wichtige Würde des Oberlandeshauptmanns, der zugleich Vertreter des Königs und der schlesischen Stände war, vertraute er dem Breslauer Bischof als dem verläßlichsten Altgläubigen und harmlosesten Territorialfürsten an. Die Reichsacht gegen Magdeburg nach dem Schmalkaldischen Krieg benutze er dazu, den alten Rechtszug von Schlesien an jenen Oberhof auf das neue Appelationsgericht in Prag umzulenken; der bedeutendste Schritt folgte zehn Jahre später mit der Schaffung der Schlesischen Kammer auf der Breslauer Kaiserburg, die mit einem Rentamt, einer Kanzlei und einer Buchhalterei verbunden war und auf dem Grundgedanken der Kollegialität, der Ständigkeit und des Berufsbeamtentums beruhte. Sie hatte das Kronvermögen und die königlichen Einkünfte zu verwalten und möglichst zu mehren, unterstand für ihre Ausgaben der Wiener Hofkammer, wuchs aber bald noch über das ihr zugewiesene Finanzgebiet hinaus in die Rolle einer obersten Staatsanwaltschaft hinein; sie blieb unter den schwächeren Nachfolgern Ferdinands das wichtigste Mittel der Krone, den errungenen Vorsprung vor gleichlaufenden Bestrebungen der Stände im Ausbau des schlesischen Verfassungswesens zu behaupten und die Grundlage für einen zweiten Vorstoß der Zentralgewalt im Dreißigjährigen Krieg zu schaffen. Dasselbe Jahr, das die Errichtung der Kammer brachte, zeigt uns den unermüdlichen Herrscher auch noch auf einem anderen Felde führend: sein Interesse an der Förderung  des schlesischen Handels bekundete sich in einem großen Kanalbau, der Oder und Spree verbinden sollte, aber durch die mangelnde Teilnahme des brandenburgischen Kurfürsten damals nicht zur Vollendung kam.

 

Luthers Lehre in Schlesien

 

Den Schlesiern freilich war dieses plan- und kraftvolle Wirken einer fast  40-jährigen Regierung nur die eine Seite ihres Erlebens in diesen Jahrzehnten: nicht minder tief fühlten sie sich ergriffen von der neuen Lehre Luthers, der sie sich bereitwillig öffneten. Die Wanderwege der vermögenden Kaufherren, der biederen Handwerksburschen und der gelehrten Humanisten wurden nun auch die Straßen, auf denen die Boten Luthers von Binnendeutschland nach dem Osten zogen und umgekehrt die Söhne des Ostens die neue Verkündigung an ihrer Quelle aufsuchten. Drei Jahre bestand in Liegnitz die erste protestantische Universität Deutschlands, und jahrzehnte hindurch zog die berühmte Lateinschule Valentin Trozendorfs in Goldberg die bildungshungrige Jugend Schlesiens und seines Vorfeldes in ihren Bann. Fürstliche Einsicht und ratsherrliche Besonnenheit lenkten die Durchführung der Neuerungen so geschickt, daß es kaum zu ernsteren Ausschreitungen kam, und es ist ein beredtes Zeugnis für die Verträglichkeit des Schlesiers, daß der innere Streit der verschiedenen protestantischen Richtungen erst mit der Verzögerung eines Menschenalters Eingang fand und der katholische Güterbesitz weithin unangetastet blieb: Zahlenmäßig zeitweise bis auf ein Zehntel ihrer Bekenner zusammengeschmolzen, hat die katholische Kirche doch fast ein Drittel von Grund und Boden des Landes behalten. So eindeutig der Siegeszug der Reformation die Verbindung des schlesischen Stammes zu dem Sprachinsel- und Streudeutschtum des Vorfeldes vertiefte, so wenig machte der schlesische Protestantismus deshalb grundsätzlich an der Sprachgrenze halt; lebhaft empfand und hingebend vollführte er den Auftrag, die neue Lehre auch den slawischen Bevölkerungsresten des Landes, in ihrer Muttersprache zugänglich zu machen, in seinem Bereiche somit Teilhaber an einem bedeutsamen Ergebnis des Protestantismus: an der Bewahrung so mancher verkümmerten Volkssprache Ostmitteleuropas und ihrer Erfüllung mit neuem Hauche. Wenn auf politischem Felde der Übergang Schlesiens an das Haus Habsburg  seine Ausrichtung nach Südwesten auf Prag und Wien zur eindeutigen Schicksalslinie für die Folgezeit erhob, so sicherte auf geistigem Gebiet die Befruchtung durch Wittenberg  nicht nur den Fortbestand des alten Zusammenhangs mit dem nordwestlich benachbarten Deutschtum, sondern unterstrich zugleich auch die Verästelung dieser geistigen Schicksalsader nach Süden und Osten über die dort unverändert klar sich abzeichnende Staatsgrenze Schlesiens hinaus.

Die politische Freundschaft mit den letzten Jaggelonen in Polen und bald auch mit ihren Nachfolgern, den katholischen Wasas, schaltete jede Bedrohung Schlesiens von jener Seite für die Habsburger aus; ihr Hauptaugenmerk blieb auch unter Ferdinands Nachfolgern der abendländischen  Abwehrfront gegen die Türken gewidmet. Im Zeichen der Türkengefahr standen daher weitgehend die innerpolitischen Schritte der Hofburg auch in Schlesien und ihr zunächst zögerndes Eingehen auf die von Rom betriebene Gegenreformation. Die Verteidigungs- und Finanzmaßnahmen wurden zeitgemäß ausgestaltet, die nach  Joachimsthaler Vorbild erlassene Bergordnung von 1577 sollte der Hebung der Bodenschätze dienen. Beim Aussterben der Jägerndorfer Hohenzollern 1603 konnten die märkischen Vettern diese wichtige Erbschaft antreten, ohne vorerst von dem schwachen Kaiser Rudolf merklich gestört zu werden. Als die außenpolitische Bedrohung mit einem Bruderzwist im Herrscherhause selbst zusammenfloß, gelangten die schlesischen Stände im Kielwasser der böhmischen Adelsopposition am 20. August 1609 sogar zu ihrem denkwürdigen Majestätsbrief, der ihrer konfessionell-politischen Wünsche in erstaunlichem Umfange erfüllten. Nicht nur wurden das katholische und lutherische Glaubensbekenntnis für völlig gleichberechtigt erklärt, sondern auch über die Grndsätze des Reichs-Religionsfriedens von Augsburg hinaus jedem einzelnen Einwohner freie Religionsübung zugesichert; der oberste Landeshauptmann sollte künftig nur aus den weltlichen, d.h.  aber für die damalige Lage den protestantischen Fürsten genommen werden. Mit diesen Vergünstigungen steht Schlesien beispiellos unter den deutschen Territorien seiner Zeit da.

 

Gesegnete Heimsuchung

 

Nicht lange freilich sollte diese Genugtuung vorhalten. Durch die Bestimmung des unduldsamen Erzherzogs Ferdinand aus der steirischen Linie zur Nachfolge des kinderlosen Matthias , die Erhebung seines Bruders Karl auf den Breslauer Bischofsstuhl und das Eindringen von Konvertiten in den schlesischen Fürstenstand mißtrauisch geworden, durch den Übertritt der Herzöge von Jägerndorf, Brieg und Liegnitz zur kalvinistischen Richtung mit dem politisch aktiven Lager des Protestantismus in nähere Verbindung getreten, ließ Schlesien sich nach dem Prager Fenstersturz bestimmen, an der ständisch-konfessionellen Auflehnung gegen Ferdinand teilzunehmen, und den Pfälzer Kurfürsten zum Oberherrn zu wählen. Nach der Niederlage am Weißen Berg (1620) bewahrte der sächsische Kurfürst als kaiserlicher Bevollmächtigter im Dresdner  Akkord des folgenden Jahres Schlesien vorerst noch vor den Vergeltungsmaßnahmen, die damals schon über das benachbarte Böhmen und Mähren hereinbrachen; Ferdinand begnügte sich mit der Vertreibung des Hohenzollern aus Jägerndorf. Aber seine weitergehenden Absichten konnten nicht verborgen bleiben, und Schlesiens strategische Schlüsselposition, die es für alle Feinde Habsburgs zum natürlichen Aufmarschgebiet machte – für Mansfeld, später für die Schweden und ihre Bundesgenossen Sachsen und Brandenburg -, ließ in den Wechselfällen des Krieges an die protestantischen Stände Schlesiens noch mehrfach die Verlockung herantreten, durch Anschluß an die äußeren Gegner ihres Oberherrn die eingeleitete Zwangsbekehrung rückgängig zu machen und künftiger Bedrohung vorzubeugen. Die unzureichende Anspannung jedoch der eigenen Kräfte und das Versagen des nächsten Schutzherrn, des sächsischen Kurfürsten, lieferten das Land schon im Prager Frieden von 1635 dem kaiserlichen Strafgericht aus und besiegelten im Westfälischen Frieden von 1648 das rechtliche Übergewicht des erstarkten und von außen gestützten Katholizismus: lediglich die Fürsten von Oels, Liegnitz und Brieg sowie der Breslauer Rat behielten für ihr Gebiet das Recht protetantischer Glaubensübung, und auch nur in der lutherischen, nicht in der nun reichsrechtlich sonst ebenfalls anerkannten reformierten Form. Im übrigen Schlesien waren die Protestanten, denen der Auswanderungszwang erspart blieb, auf den Gottesdienst in jenen privilegierten Bezirken, in den drei gestatteten Friedenskirchen von Schweidnitz, Jauer und Glogau und in den neuen Grenzkirchen angewiesen, die nun in großer Zahl auf dem Boden des benachbarten Brandenburg und der sächsisch gewordenen Lausitz errichtet wurden. Von politischem Einfluß des schlesischen Fürstentages konnte keine Rede mehr sein.

Von unablässigen Kriegszügen und wiederholten Seuchen heimgesucht, hatte das Land zusätzlich noch den schweren Aderlaß zu überwinden, den die Glaubensverfolgungen vor und nach 1648 ihm brachten. Verlor es durch die Zwangseinquartierungen der berüchtigten „Lichtensteiner“Tausende von fleißigen Untertanen, die ihr blühendes Gewerbe in die deutschen Städte des Posener Randgebietes und Kursachsens verpflanzten, so schlug ihm die spätere Einzelauswanderung der evangelischen Geistlichen und Lehrer aus den Erbfürstentümern und Standesherrschaften nicht minder spürbare Wunden. Um so heller hebt sich vor dem düsteren Hintergrund der Wirtschaftsnot und des Flüchtlingselends die Hilfsbereitschaft ab, in der die protestantischen Inseln des Landes den schutzsuchenden Glaubensflüchtlingen deutscher und slawischer Zunge gegenübertraten, und um so teilnahmsvoller ruht unser bewundernder Blick auf der geistigen Leistung, die der bedrängte schlesische Protestantismus eben damals vollbracht hat. Während die Schlüsselpositionen im Bildungswesen – das 1702 zur Universität erhobene Breslauer Jesuitenkolleg und die josephinische Ritterakademie in Liegnitz – in katholischer Hand lagen, hat das schlesische Luthertum aus der ständigen Auseinandersetzung mit der katholischen Umwelt und aus dem Bildungszwang seiner Söhne, die auf den binnendeutschen Hochschulen vom Geisteshauch des Kalvinismus ergriffen wurden, eine einzigartige Kraft entfaltet und seine Heimatprovinz zur geistig, literarisch und philosophisch führenden Landschaft Deutschlands erhoben. Über das gequälte Land, das einseitiger Glaubenseifer noch ein Jahrhundert lang nicht recht zur Ruhe kommen ließ, wölbte sich in begnadetem Ausgleich ein geistiger Himmel, an dem noch heute unverblaßte Sterne glänzen: Die Schöpfer kraftvoller Kirchenlieder, die Großen der Schlesischen Dichterschulen von Opitz bis Günther, der Breslauer Hauptpfarrer Caspar Neumann als ein Vater der europäischen Statistik und sein größter Schüler, der Lohgerbersohn Christian Wolff, der unübertroffene Vertreter der deutschen Aufklärungsphilosophie, auf dessen Schultern sich Immanuel Kant erhob.

 

Die Habsburger rücken fern

 

Zu ihrem eigenen Verhängnis haben die Habsburger in Schlesien, das ihnen mit dem Westfälischen Frieden fast uneingeschränkt zu Füßen lag, die politischen Möglichkeiten bei der Ausnutzung ihres Erfolges nur wenig ausgeschöpft und sich um so einseitiger der Aufgabe verschrieben, den konfessionellen Sieg zu vervollständigen. Sie haben damit den Blick des protestantischen Bevölkerungsteils zwangsläufig auf die Glaubensverwandten des Auslandes, die Kurhäuser von Sachsen und Brandenburg sowie das schwedische Königshaus, als Garanten des Friedens von 1648 gelenkt, ohne ihn und gleichzeitig die katholischen Untertanen durch fortschrittliche Leistungen in Verwaltung und Wirtschaft stärker an Wien zu binden. Was der tatkräftige Ferdinand I. angestrebt – den Schiffartsweg zwischen Oder und Spree -, überließen seine schwerfälligen Enkel dem Großen Kurfürsten 1669 auszuführen. Das Aussterben der letzten Piasten von Liegnitz- Brieg (1675) diente nicht zur Mehrung und Straffung des unmittelbaren Kronlandes in Schlesien, sondern gab lediglich den Anstoß zur Ausdehnung der Gegenreformation auf diesem bisher ausgesparten Gebiet. So rissen die Gegenvorstellungen deutscher und außerdeutscher Mächte am Wiener Hof zugunsten der schlesischen Protestanten nicht mehr ab, und wenn Sachsen nach 1697 durch den Übertritt seines Kurfürsten zum Katholizismus als protestantische Schutzmacht stark zurück trat, so konnte der Berliner Hof für seine Erbansprüche auf Jägerndorf und neuerdings auch auf Liegnitz-Brieg auf erhöhtes Gewicht und Volkstümlichkeit bei den Evangelischen in Schlesien rechnen; und 1707 erzwang das Erscheinen des Schwedenkönigs Karl XII. in Deutschland von Kaiser Joseph I., der im Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und die ungarischen Empörer sich nicht noch die Herausforderung eines dritten Feindes leisten konnte, die Abmachung von Altranstädt, die den Protestanten den Besitzstand von 1648 zusicherte und weitere  6 Gotteshäuser als „Gnadenkirchen“ bewilligte. Aber auch jetzt wollte die Hofburg sich nicht zu einer grundsätzlichen Abkehr von ihrer bisherigen Unduldsamkeit verstehen; unter dem letzten männlichen Habsburger, Karl VI., lebte die Politik der kleinen Schikanen und Nadelstiche gegen das Luthertum in Schlesien wieder auf, während die anderen protestantischen Richtungen überhaupt noch keine Rechtssicherheit genossen und die Schwenckfelder sich sogar zur Auswanderung nach Nordamerika getrieben sahen. Das Wiener Herrscherhaus, das die Schlesier seit über hundert Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten, galt ihnen als der starre Parteigänger der katholischen Belange, von dessem staatsmännischem Wirken man sonst wenig verspürte: Weder die seit langem fällige Steuerreform noch die karthographische Landesaufnahme kamen unter Karl VI. zum Abschluß. Als er am 20. Oktober 1740 die Augen schloß, war die weibliche Erbfolge durch die Pragmatische Sanktion bei den europäischen Mächten äußerlich zwar sichergestellt, aber weder in den Herzen der protestantischen noch der katholischen Einwohner Schlesiens wahrhaft verankert.

 

Frischer Wind von Norden

 

Der Entschluß des jungen ehrgeizigen Preußenkönigs, der ein schlagkräftiges Heer und ein leistungsfähiges Staatswesen hinter sich wußte, zu sofortigem Handeln entsprach durchaus den Begriffen der Zeit und dem Vorbild, das so manches andere gekrönte Haupt ihm bot. Er hat für diesen Schritt in einem siebenjährigen Kampf auf Leben und Tod einstehen müssen, der sein Königreich an den Rand des Abgrunds führte und viel Kriegsleid über das Oderland brachte; seit 1742 kennt die Geschichte ein großes Preußisch- und ein kleines Österreichisch-Schlesien, dessen Geschicke sich nun eng mit denen des Sudetenlandes verknüpften. Seinem preußischen Schlesien hat Friedrich seine ganze Anteilnahme und Fürsorge zugewandt; was an juristischer Begründung des Besitzwechsels umstritten bleiben mochte, haben die neuen Untertanen weniger empfunden als die Tatsache, daß sie wieder einen wahrhaften Landesvater besaßen, und seine große Gegnerin Maria Theresia, die den Verlust ihres Kronjuwels niemals verwinden konnte, hat dem staatsmännischen Range ihres Feindes die beredte Huldigung gezollt, daß sie in seinen Bahnen die Reform ihres Reiches betrieb, wobei ihr zwei Schlesier hilfreich zur Seite standen: für die Verwaltung Graf Haugwitz und für das Schulwesen Abt Felbiger von Sagan.

 

Hineinwachsen in die preußische Welt

 

In Schlesien gewann Preußen seine dichtestbewohnte Provinz; zu den bisherigen 2,5 Millionen trat rund eine weitere Million von Untertanen, darunter eine erhebliche Zahl von Katholiken, deren Oberhirte der erste katholische Bischof in Preußen war und damit der natürliche Anwalt der katholischen Belange in den anderen preußischen Provinzen. Der König hat bei aller Betonung der staatlichen Oberhoheit doch auch seine schützende Hand über den Klerus gehalten, als der Papst 1773 den Jesuitenorden aufhob und bald darauf eine Welle der Besitzenteignung durch die katholischen Länder ging: zu einer Säkularisation des Kirchengutes ist es in Schlesien erst in der Notzeit der Napoleonischen Fremdherrschaft gekommen. Durch die Abtretung vom nördlichsten, seenächsten Ausläufer eines donauländischen Wirtschaftsraumes zur seefernsten Außenprovinz des preußischen Staates geworden und durch die Zollmauer an seinen neuen Grenzen in Handel und Gewerbe  schmerzlich getroffen, hat das Oderland sich wirtschaftlich doch behauptet und fast die Häfte der gesamten preußischen Ein-und Ausfuhr bestritten; in der Ausfuhr aber nahm wiederum die Hälfte die schlesische Leinwand ein, die den Ruf des Landes über den ganzen Erdball  trug. Der Landbevölkerung, deren rechtliche Lage allenthalben in Ostdeutschland seit dem Beginn der Neuzeit unter der Entwicklung zum Großgrundbesitz sich verschlechtert hatte, kam die gesetzliche Einführung des Bauernschutzes von 1749 zugute, die in Schlesien vor allen anderen Provinzen erfolgte. Dazu trat ein planvolles Siedlungswerk auf den bisher kaum bebauten Sandböden, vor allem in Oberschlesien rechts der Oder, das neue Arbeitskräfte ins Land holen wollte, um die Volkszahl zu heben und Gewerbe und Kultur zu fördern. Durch Auffüllung bestehender Orte und über 400 Neugründungen waren die Menschenverluste Schlesiens schon ein Jahrzehnt nach dem Siebenjährigen Krieg in dreifacher Höhe wettgemacht. Dem Bedürfnis des Heeres und der oberen Staatsverwaltung diente die Stützung des Landadels durch die Gründung der „Schlesischen Landschaft“ von 1770, einem Kreditinstitut, das damals in ganz Deutschland nicht seinesgleichen hatte. Mit dem Zwang regelmäßiger Zinszahlung für die  gewährten Darlehen bewirkte es beim Adel nicht nur eine bessere Bewirtschaftung seines Besitzes, sondern begünstigte auch das Aufkommen eines fortschrittlich gesinnten Unternehmertums, das in dem eben erwachenden oberschlesischen Industriegebiet ein ganz neues Tätigkeitsfeld fand. Unter dem Minister Heinitz und seinem Berghauptmann Graf Reden begann die große Zeit des oberschlesischen Industrieaufschwungs: im seefernsten Winkel Preußens erfolgte zuerst der volle Anschluß an die industrielle Revolution Englands, entstand das erste moderne Steinkohlenhüttenrevier des Festlandes.

So war das Land auf den verschiedenen Lebensgebieten unter dem Zepter des großen Königs aufs engste mit dem preußischen Staatswesen verwachsen, und die Trauer bei seinem Tod war echt und ungeheuchelt. Auch die sozialen Spannungen, die sich zur Jahrhundertwende hin ankündigten – durch einseitige Begünstigung des Adels gegenüber den bäuerlichen Untertanen und die Krise im Leinengewerbe, das mit dem maschinell fortgeschrittenen Ausland nicht Schritt hielt – bedeuteten keine ernste Belastung für die Treue der Schlesier zu ihrem neuen Herrscherhause; die Anstöße, welche damals von dem revolutionären Frankreich ausgingen, fanden in Preußens Industrieprovinz kein Echo. Aus den Reihen ihrer Bürger kamen vielmehr die treuesten Diener des Staates und die beredtesten Wortführer europäischer Gegenwehr gegen den Geist des Umsturzes. War das große Gesetzwerk des „Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten“ von 1794 in der Hautsache das Werk des Schweidnitzer Justizrats Carl Gottlieb Suarez (1746 – 1798), so stellte Breslau gleich zwei geistige Hauptgegner des Despoten Napoleons: den Schriftsteller Friedrich Gentz (1764 – 1832), dessen Lebensweg über Berlin an den Wiener Hof führte und den Theologen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) , in dessen Wirken für die Akademie und die neue Universität in Berlin zur Zeit der tiefsten preußischen Demütigung sich so recht der Wille der Reformgeneration verkörpert

 

Im europäischen Freiheitskampf

 

Vom Kriegsgeschehen 1806/1807 noch nicht in seiner vollen Schwere getroffen, hat Schlesien an den Folgen der Niederlage und den Bemühungen zur Wiederaufrichtung des Staates seinen vollen Anteil genommen. Zu den Geld- und Naturalleistungen für die Besatzungstruppen und den lasten der Komtinentalsperre traten die Anleihen und Bürgschaften der Breslauer Kaufleute, ohne welche die geforderte Kriegsentschädigung überhaupt nicht aufzubringen war; die ebenfalls zum Finanzausgleich angeordnete Einziehung des Kirchengutes traf unter den preußischen Provinzen sogar Schlesien so gut wie allein. Als berechtigte Entschädigung empfand es daher das Land, wenn es über die Beteiligung  an der Steinschen Bauernbefreiung von 1807 und die Städteverordnung von 1808 hinaus drei Jahre später schließlich den uralten Wunsch nach einer Volluniversität erfüllt bekam in der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität von 1811, in der die Frankfurter Viadrina und die bisherige Breslauer Leopoldina aufgingen, und die als erste deutsche Universität eine katholische und eine evangelische Theologische Fakultät nebeneinander aufwies – ein neuer Beitrag Schlesiens zu der Praxis kirchlicher Gleichberechtigung und ein weiterer Ausdruck seiner Ausgleichsaufgabe zwischen Nord- und Süd. An der europäischen Erhebung gegen Napoleon 1813 aber nahm das Land mit einem Eifer teil, der Kräfte weit über seine Bevölkerungszahl und wirtschaftliche Durchschnittsleistung entband. Bot Preußen das  Aufmarschgebiet und die Kerntruppe des europäischen Zusammenschlusses, so war Schlesien seinerseits das Sammelbecken für die freiheitsliebenden Deutschen aller Gaue und der Rückhalt des preußischen Aufgebots. Mit freudigem Herzen folgten gerade die Schlesier dem königlichen „Aufruf an mein Volk“: war nun doch nach Jahrzehnten erbitterter Gegnerschaft zwischen Österreich und Preu0en, die sich an Schlesien entzündet hatte, und nach folgenschweren Jahren mangelnder Zusammenarbeit von Wien und Berlin gegen den Übermut Napoleons endlich die Stunde gekommen, da die beiden deutschen Vormächte sich auf schlesischem Boden zusammenfanden zu einmütiger Abschüttelung der despotischen Fremdherrschaft, und wie der Hörsaal von Henrik Steffens, das „Goldene Zepter“ auf der Breslauer Schmiedebrücke und die Dorfkirche von Rogau als Gedenkstätten einer echten Volkserhebung untrennbar mit dem Bilde des Frühjahrs 1813 verbunden sind, so knüpfen sich an die Namen Reichenbach und Trachenberg die entscheidenden politischen und strategischen Vereinbarungen, auf denen die Niederwerfung des Korsen beruhte.

 

Das bürgerliche Jahrhundert

 

Durch die Neuordnung von 1815 wurde Schlesiens Bindung an den Hohenzollernstaat noch bekräftigt, indem nun auch die benachbarte Oberlausitz und das Posener Land an Preußen kam. Über ein Jahrhundert ist  die um Lausitzer Landstriche vergrößerte Provinz davor bewahrt geblieben, Kriegsschauplatz zu werden. Freilich kam ihr im neuen Preußen auch nicht mehr das bisherige Gewicht zu: Nicht mehr eine unter vier, sondern unter neun und später elf Provinzen, dazu nicht mehr das einzige Industrierevier des Staates – so zog Schlesien auch die Blicke der Berliner Zentrale nicht mehr im bisherigen Maße auf sich; umgekehrt war es bis weit in den Kulturkampf hinein an seinen östlichen Rändern von der polnischen Propaganda noch so wenig erfaßt, daß es auch als Sorgenkind hinter anderen Provinzen zurücktrat. So hat es weithin ein Dasein für sich geführt und ist dem übrigen Deutschland zumeist nur durch seine Dichter – von Eichendorff über Holtei und Freytag hin zu Stehr und den Brüdern Hauptmann – ein lebendiger Begriff geblieben. In ihren Dichtungen freilich hat ein gut Teil auch von dem seinen Niederschlag gefunden, was nach Höhen und Tiefen den Inhalt schlesischer  Provinzialgeschichte im 19. Jahrhundert ausmacht: Das Ringen von Handel und Großindustrie mit der Ungunst der Verkehrslage, der Sog der Hauptstadt Berlin und des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, in dessen Richtung auch östliche Zuwanderer, Slawen und Juden, sich einschalteten, und mancherlei soziale Nöte – im Gebirgsland die Krise des Textilgewerbes, die zum Weberaufstand von 1844 führte, in Breslau das Wohnungselend der Kasematten, in das ein Wilhelm Wolff hineinleuchten mußte, während der Breslauer Ferdinand Lasalle zu einem Führer der Arbeiterbewegung  sich entwickelte, und in Oberschlesien der Hungertyphus von 1847/1848,  zu dessen Bekämpfung der aus Hamburg herbeieilende Johann Hinrich Wichern die schlesischen Katholiken und Protestanten Hand in Hand zu arbeiten bereit fand.

 

Sturz in die Tiefe

 

Noch vor dem ersten Weltkrieg jedenfalls waren die aufgebrochenen Krisenherde erkannt und ihre Überwindung im Gange. Dem heimischen Unternehmergeist kamen staatliche Maßnahmen, voran der Ausbau der Oderschiffartsstraße und die Gründung der Technischen Hochschule in Breslau 1911 , zu Hilfe; die Zahl der polnischen Wahlstimmen in den mehrsprachigen Grenzkreisen war im Rückgang, die Entfremdung katholischer Volksteile im Kulturkampf wieder im Abklingen, in der Arbeiterschaft das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur deutschen Schicksalsgemeinschaft ungeschwächt. Die Stunde der Bewährung für dieses Bewußtsein kam mit dem Zusammenbruch von 1918, Das unverstandene Polen sparte nicht mit Lockungen und Drohungen. Trotzdem hat sich in den Teilbezirken, in denen die Siegermächte eine Volksbefragung überhaupt für nötig hielten, unter einseitig günstigen Bedigungen für die polnische Propaganda eine starke Mehrheit – 707 393 gegen 479 365 Stimmen – für den Verbleib bei Deutschland ausgesprochen, darunter fast einmütig die großen Städte des Industriegebietes. Dem ungeachtet ward dieser einheitliche Wirtschaftskörper durch eine Teilungsliene zerschnitten, welche die wichtigsten Anlagen und Abbaubezirke an Polen gab. Mit den anderen Ostprovinzen Preußens erfuhr Schlesien das Leid einer im Volkswillen so wenig wie in geschichtlich-kulturellen Rechtstiteln begründeten Verstümmelung, die als „blutende Grenze“ in ganz Europa Aufsehen erregt hat.

 

Das Inferno

 

So mündete in unseren Tagen nach einer siebenhundertjährigen, durchwegs friedlichen Nachbarschaft zwischen dem Deutschtum als dem entscheidenden Gestalter der politisch-kulturellen Entwicklung und den zusammengeschmolzenen Resten slawischer Herkunft auch die Geschichte dieser ausgesprochenen Ausgleichslandschaft nun ein in das Zeitalter kurzsichtiger Aufpeitschung von Masseninstinkten, die  mit ihrem Ruf nach Vergeltung und Wiedervergeltung niemals mehr aus einem verhängnisvollen Kreislauf herauszufinden droht. In die Freude deutscher Herzen über den Fall der Staatsgrenze von 1742 und die wiederhergestellte Einheit Oberschlesiens durch die Ereignisse von 1938/39 fiel bereits der Schatten begründeter Sorge, daß das berechtigte Streben nach Wiedergutmachung eines erlittenen Unrechts jetzt unter den nationalsozialistischen Machthabern in eine Entrechtung der slawischen Nachbarn umschlage und nun deutscherseits eine verhängnisvolle Saat ausgestreut werde. Der Gegenschlag des Slawentums ist nicht ausgeblieben: In ungeahnter Steigerung hat sich nach dem zweiten Weltkrieg die ostdeutsche Schicksalsgemeinschaft Schlesiens wiederholt. Der entfesselten Hölle in den Wochen des Zusammenbruchs folgte die unbarmherzige Enteignung und Austreibung von Millionen aus ihren angestammten Sitzen. Hatte Ostdeutschland in Versailles eine blutende Wunde empfangen, so wurde nun ein grauenhaftes Todesurteil an ihm vollstreckt. Vom Memelland bis zur Mährischen Pforte sollten 700 Jahre deutscher Friedensarbeit und damit zugleich europäischer Geschichte mit einem Federstrich ausgetilgt werden – ein beispielloser Vorgang, der über den gequälten Aufschrei der Betroffenen hinaus alle Völker zu ernstetster Besinnung rufen muß.

Während in der verödeten Heimat spärlich angesetzte Fremdlinge unsicher und beklommen sich einzurichten suchen, sind die Schlesier mit den Millionen der anderen Ostvertriebenen in das zusammengepreßte Restdeutschland hineingepfercht. Undurchdringlicher denn je liegt die Zukunft vor  ihnen. Und doch bietet gerade ihnen ihre reiche und wechselvolle Geschichte eine zweifache geistige Wegzehrung: das Bewußtsein reichen Segens, der immer wieder aus schwerer Prüfungszeit erwuchs, und das Bedürfnis, Brücken zu schlagen – nicht allein zwischen den verschiedenen Ausprägungen deutscher Art in Nord und Süd, sondern auch über die Grenzen des deutschen Bereichs hinaus, im Ernstnehmen der Menschenwürde eines jeden Volkes auf Erden. Ein entschlossenes Ja zu diesen beiden Grundzügen heimischer Geschichte wird in der ungewissen Wartezeit auf den entgültigen Spruch der Siegermächte über das ostdeutsche Schicksal der erste und vielleicht verheißungsvollste Beitrag sein, den der grausam entwurzelte Schlesier unserer Tage zu einem künftigen Neuanfang leisten kann.

 

Entnommen aus dem Buch „Wir Schlesier“ (1949), Akademischer Gemeinschaftsverlag Salzburg,Österreich

Erstellt: W.Schön; Mail: genealogie@wimawabu.de