Die Tragödie der deutschen Kirchenglocken

von W.Finke (1957)



Als ich im vorigen Jahre den Kirchturm einer westdeutschen Stadt bestieg, fand ich oben 3 Glocken einträchtig beieinander: die eine stammt aus meinem Heimatdorf Langenau, die zweite läutete einst über den Weiten Ostpreußens, und die dritte schließlich ist eine „Einheimische“. Gemeinsam klingen sie nun über den Dächern der betriebsamen Stadt. Aus ihren Klängen spricht tausendfältiges Lob und Dank zugleich: „Auch wir sind noch einmal heil davon gekommen!“ und zugleich eine Mahnung an die allzu geschäftigen Menschen zu ihren Füßen: „Gedenket der letzten Frist, die Euch gegeben ist“.

Im Jahre 1940 war es, als der Krieg seine gierige Hand nach den Rufern auf unseren Türmen ausstreckte. Die Reichsregierung erließ an die Kirchen den Befehl, „zur Sicherung der Metallreserve für eine Kriegsführung auf lange Sicht“. Danach sollten sämtliche deutschen Kirchenglocken der Rüstungsindustrie zur Verfügung gestellt werden. In ganz Deutschland sollten lediglich 10 bis 12 Glocken erhalten bleiben, wie aus einer Äußerung Görings, des damaligen Beauftragten für den Vierjahresplan, hervorging!

Die Kirchen taten sofort was in ihrer Macht stand, um das Vernichtungswerk aufzuhalten. Unermüdliche Verhandlungen mit den Dienststellen des Staates und der Partei brachten es schließlich zuwege, das ungefähr 5-6 % des gesamten Glockenbestandes auf den Türmen verbleiben durften. Dennoch ist die Schlußbilanz erschütternd: Annähernd 77% beträgt der Gesamtverlust; nämlich 47 000 Glocken. Der deutsche Osten ist an dieser Zahl mit rund 3000 Glocken beteiligt. Die Prozentanteile der einzelnen kirchlichen Verwaltungsgebiete ist sehr unterschiedlich; am härtesten wurde das Bistum Speyer mit einem Glockenverlust von 93% betroffen. Diesem ungeheuerlichen Verlust steht nur eine recht bescheidene Anzahl geretteter Glocken gegenüber; es sind nicht mehr als 16 000. Davon stammen etwa 1300 Glocken aus dem Land jenseits der Oder- Neiße- Grenze.

Während man im ersten Weltkrieg die vor 1860 gegossenen Glocken (Gruppe B und C) schonte, ging man im Jahre 1940 viel rücksichtsloser vor. Der Großteil der Glocken aus dem 16. und 17. Jahrhundert, ja selbst mittelalterliche Glocken, wurden von den Türmen heruntergeholt. Das von der Kirche erreichte Zugeständnis, jeder Kirche wenigstens eine Läuteglocke zu belassen, diente offensichtlich nur dazu, den Glockenraub vor der Öffentlichkeit etwas zu tarnen. Die den Kirchen belassene Läuteglocke durfte indessen nicht schwerer als 25 kg sein. Darüber hinaus erkannten die Durchführungsbestimmungen als Kirchengemeinden nur solche an, die eine eigene Rechtspersönlichkeit besaßen, Filialkirchen, wie z.B. die katholische Kirche zu Langenau und Tschischdorf (Kreis Löwenberg), welche beide zu Boberröhrsdorf gehörten, fielen nicht unter diese Vergünstigung.

Nach ihrer Abnahme von den Türmen wurden die Glocken gesammelt und durch die Kreishandwerkerschaften in Schiffsladungen und Güterzügen den Hüttenwerken zugeführt. Wegen der günstigen und damals noch ungestörten Verkehrsverbindungen erhielten die beiden Hüttenwerke in Hamburg den weitaus größten Teil aller Glocken. Die anderen deutschen Kupferhütten in Oranienburg, Hettstedt, Ilsenburg, Kall und Lünen wurden an der Verschrottung in geringerem Maße beteiligt.

In Hamburg kam eine riesige Anzahl Glocken auf dem damals unbenutzten Holzlager am Reiherstieg zur Aufbewahrung. Weil der Platz nicht ausreichte, sah man sich gezwungen, die Glocken zu Pyramiden aufeinander zu türmen. Die Folgen einer solchen Lagerung waren schwerwiegend; durch den übermäßigen Druck entstanden oftmals feinste Risse, die beim späteren Anläuten zu Sprüngen führten und dadurch die Glocke unbrauchbar machten.

Infolge der Bombenangriffe sank die Kapazität der Hüttenwerke immer weiter herab, so daß an eine Verarbeitung der Glocken nicht mehr zu denken war. Trotzdem traten bei den Glocken verheerende Verluste ein, weil die Hüttenwerke und Lager bedauerlicherweise noch in den letzten Wochen das Ziel ununterbrochener Fliegerangriffe waren.

Nach Beendigung der Kriegshandlungen unterlag zunächst sämtliches Glockenmaterial der Beschlagnahme durch die jeweilige Militärregierung. Auf deutscher Seite entstand unter der Leitung von Oberlandeskirchenrat Prof. Dr. Mahrenholz der „Ausschuß für die Rückführung der Glocken“ (ARG). Diesem gehörten ferner an Msgr. Prälat Wintermann, Prof. Dr. Sauermann, Oberkirchenrat Dr. Pietzcher, Kirchenrat Schildge, Dr. Strieder sowie Reichsbahnrat Dr. Severin. Nachdem der Kontrollrat kurz vor seiner Auflösung noch beschlossen hatte, die Glocken an die jeweiligen Eigentümer auszuhändigen, oblag es vor allem Herrn Dr. Severin, die praktische Arbeit der Rückführung zu bewerkstelligen. Und so kehrten zuerst die Glocken der britischen und amerikanischen Besatzungszonein ihre heimatlichen Türme zurück, dann folgten im Herbst 1947 diejenigen der französischen Zone.

Schwierig gestalteten sich die Verhandlungen mit der sowjetischen Besatzungszone. Dort befanden sich nach Kriegsende 3 kleinere Glockenlager: eines in Oranienburg bei Berlin mit rd. 300 Glocken, ein zweites bei Ilsenburg am Harz mit rd. 600 Glocken und ein drittes bei Hettstedt (Harz) mit etwa 400 Glocken. Letztere stammten aus Rheinland. In Hamburg lagerten noch 1100 Glocken aus Mitteldeutschland. Nach zweieinhalbjährigen Bemühungen kam im Sommer 1950 der Austausch zustande, und die Glocken aus Hamburg und Hettstedt fanden endlich ihre Heimatgemeinden diesseits und jenseits der Zonengrenze wieder. Es muß hierbei erwähnt werden, daß die damals auftauchenden Gerüchte über einen Mißbrauch der Glocken in der Sowjetzone für industrielle Zwecke jeder Grundlage entbehren.

Die Arbeit des ARG mit seinen vielen ehrenamtlichen Helfern wurde getragen von beispiellosem Idealismus und größter Verantwortung. Zu den schwierigen Aufgaben gehörte u.a. auch die Entschlüsselung der einzelnen Glocken. Durch jahrelange Lagerung im Freien waren die meisten Kennziffern und Beschriftungen auf den Glocken unleserlich geworden. So mußten denn aus den Gießernamen und Jahreszahlen, aus dem plastischen Schmuck der Glocken, ihren Umschriften und anderen Kennzeichen in mühevoller Kleinarbeit die Heimatgemeinden ermittelt werden. Eine umfangreiche Korrespondenz mit den Kirchengemeinden war notwendig, um letzte Zweifelsfragen zu klären. Von hier aus wurden auch die vielen Anfragen der Gemeinden nach dem Verbleib ihrer Glocken beantwortet.

Völlig ungeklärt war das Schicksal der in Hamburg lagernden 1300 Glocken aus den Gebieten jenseits der Oder und Neiße. Die polnische Militärmission verlangte die Herausgabe der Glocken; die britische Militärregierung hatte dagegen ihre Freigabe verboten. Bei dieser ungeklärten Lage fand sich auch weder die Militärregierung noch die Bundesregierung bereit, den Schutz der Glocken zu übernehmen. Und wie notwendig die Bewachung der Glockenlager war, zeigen folgende Ausführungen:

Die Metallpreise hatten eine derartige Höhe erreicht, daß gewissenlose Elemente auch vor einer Beraubung der Glockenlager nicht zurückschreckten. So gelang es den Dieben, bei der Verladung des für Belgien bestimmten Glockenmaterials Anfang 1947 (auch im Ausland beschlagnahmte Glocken wurden in Hamburg gelagert) auf dem Wege von den Hüttenwerken zum Überseedampfer eine Ladung von insgesamt 50 000 kg verschwinden zu lassen. Die Diebe wurden nie gefaßt, während das Metall (Glockenscherben) im Laufe der Zeit in kleineren Partien bei Gemeinden und Metallgießereien wieder auftauchte.

Im Frühjahr 1948 kam aus einem Teillager des Hamburger Hafens die Meldung, daß 30 Glocken polnischer Herkunft, die nach Warschau verladen werden sollten, in der Nacht zuvor gestohlen worden seien. Zum Glück war das Material bereits dem Verbindungsoffizier der polnischen Militär- Mission übergeben worden, so daß der ARG von der Verantwortung für die Glocken befreit war.

Als man nach diesen Erfahrungen konsequent alle Glocken geringeren Gewichtes in ein verschlossenes Lager verbrachte, gingen die Diebe dazu über, größere Glocken zu zerschlagen, und das Metall fortzuschleppen.

Schlimm lagen die Verhältnisse in Lünen. Hier lagen etwa 2000 Glocken aus Westfalen, Württemberg und Ostpreußen. Bis der ARG dieses Lager in seine Obhut nehmen konnte, wurden bis zum Sommer 1947 222 Glocken gestohlen und verschoben. Ja selbst Kirchengemeinden scheuten sich nicht, bedenkenlos fremde Glocken gegen Speck und andere Tauschwaren zu erwerben und bei sich aufzuhängen. Diese Tatsachen sind eindeutig bewiesen. Man versuchte, den entstandenen Schaden soweit wie möglich wieder gutzumachen. So konnten allein 40 Glocken in westfälischen Kirchen sichergestellt und den rechtmäßigen Eigentümern wieder zugänglich gemacht werden. Wo allerdings das gestohlene Material umgeschmolzen worden war, mußte jede Mühe vergebens bleiben. Da vor der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft der s.Z. für das Lager Lünen verantwortliche Glockenkustos (das war v o r der Übernahme durch den ARG) ins Ausland geflohen war und vorher sämtliche Unterlagen vernichtet hatte, waren die Nachforschungen außerordentlich schwierig.

Von der Anklageerhebung gegen die verantwortlichen Vertreter der Kirchengemeinden hat die Staatsanwaltschaft nur auf dringende Vorstellungen des ARG abgesehen, um einen Skandal in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Es konnte dies mit Rückicht auf die inzwischen ergangene Amnestie des Jahres 1949 verantwortet werden.

Diese Ausführungen zeigen deutlich das Erfordernis einer strengen Bewachung der Glockenlager. Die Schwierigkeiten waren indessen ungeheuer groß. Es fehlte erstens an den hierzu benötigten 16 000 Quadratmetern umschlossenen Lagerraums sowie an Lebensmitteln und Zigaretten, mit deren Hilfe allein es in der Reichsmarkzeit gelingen konnte, Wachpersonal zu finden. Nach der Währungsreform fehlte es dagegen an den finanziellen Mitteln, um wenigstens 30 Leute für eine Dauerbewachung aufzubringen. Ein besonderes Lob gebührt daher der Hamburger Polizei, die durch Detektive und Spezialkommandos sich der Sache annahm. Es sprach sich bald herum, daß der Diebstahl und der Handel mit Glockenbronze eine höchst gefährliche Sache war.

Da in den ersten Jahren nach dem Kriege noch Benzinknappheit herrschte und das Eisenbahnnetz weitgehend zerstört war, gelangten die Glocken ausschließlich auf dem deutschen Wasserstraßennetz zu ihren Bestimmungsgemeinden. In dieser Zeit bewährte sich die deutsche Binnenschiffahrt als ein wirklicher Helfer in der Not,

So wurden durch die segensreiche Tätigkeit des „Ausschusses zur Zurückführung der Glocken“ die vom Kriege verschonten Glocken wieder ihren Heimatgemeinden zur Verfügung gestellt, während unsere ostdeutschen Glocken als Leihgaben an westdeutsche Gemeinden gelangten, die durch die Maßnahmen der Kriegszeit ihr Geläut vollständig oder zum Teil verloren hatten.

Wie schwer es zuweilen ist, den Heimatort einer ostdeutschen Glocke genau zu bestimmen, kann ich aus eigener Erfahrung berichten:

Im Sommer 1956 suchte ich einen Kirchturm in Recklinghausen-Süd (Ruhrgebiet) auf, in dem sich eine Glocke der kath. Kirche zu Kunzendorf Kreis Löwenberg befinden sollte. Bei der Besichtigung sowie an Hand eines alten Glockenkatalogs aus dem vorigen Jahrhundert mußte ich allerdings feststellen, daß es sich nicht um die von mir vermutete Glocke handelte. Die kath. Kirche in Kunzendorf Krs. Löwenberg brannte um das Jahr 1890 ab, wobei auch die aus dem Jahre 1601 stammenden Glocken vernichtet wurden. Die im Turm zu Recklinghausen hängende große Glocke stammt aus dem Jahre 1790, und ihre Heimatkirche war der Heil. Katharina geweiht. Außer einer kurzen Gebetsformel „o rex veni cum pace“ sowie der Jahreszahl weist die Glocke keine Merkmale auf, welche die Nachforschung erleichtern würden. Viele ostdeutsche Glocken konnten z.B. durch ihren Wappenschmuck identifiziert werden. Meine Bemühungen gehen weiter; es ist dabei zu bedenken, daß es bei uns daheim ja so viele K u n z e n d ö r f e r gibt.

Es gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen eines Heimatvertriebenen, hier in der Fremde den Klang seiner heimatlichen Glocke vernehmen zu dürfen.

Wir wollen nicht müde werden, zu hoffen, daß nie wieder Kriegsereignisse ihre Hand nach den Kündern des Friedens ausstrecken!


Entnommen aus „Schles.Bergwacht“, SB57/N32/S570


Erstellt von W.Schön,Mail:genealogie@wimawabu.de, 26.03.05