Schlesisches Volk

Von Will-Erich Peuckert (1949)



Der Versuch, eine kurze Darstellung des schlesischen Volkstums und seiner charakteristischen Äußerungen zu geben, ist deshalb so verlockend, weil er die Gedanken zur Heimat zur heimatlichen Landschaft und zum heimatlichen Nachbarn wendet, weil er wieder ins Bewußtsein emporträgt, was in den Jahren des Draußenseins von fremden Schichten überdeckt zu werden drohte und weil er Bande bewußt macht, die uns für ewige Zeiten binden, und die ohne Schaden nicht zerissen werden können. Niemals ist deutlicher als eben in diesen Jahren der Austreibung und der Heimatlosigkeit uns allen bewußt geworden, was Schlesien war und was zerbrach, als Schlesien zerbrochen wurde.


Die Feststellung, daß Schlesien zerbrochen wurde, bedeutet mehr als nur das Konstatieren einer historischen Tatsache. Schlesien ist ja nicht nur ein Begriff der Geographie oder ein „Ergebnis geschichtlicher, politischer Auseinandersetzungen“, Schlesien hat eine „Kulturphysiognomie“. Ratzel hat in seiner Völkerkunde diesen Begriff am Unterschied der Natur- und Kulturvölker zu erklären versucht. Er stellt von den Naturvölkern fest, daß sie in ihrer Entwicklung stehen bleiben. Der Unterschied zwischen Natur- und Kulturvölkern aber liegt eben in der Verschiedenheit ihres Wachsens, ihres Werdens und Sichentwickelns. Das Wesen des naturvölkischen Volksstammes ist als atomisiert zu bezeichnen; ihr Charakteristikum ist das in jeder Generation neu einsetzende Bemühen zum Erwerb der zum Dasein erforderlichen Mittel. „Jedes Geschlecht fängt von unten an, weil der Schatz der Erfahrungen seiner Vorfahren mit diesen fast ganz versiegt“. „Kultur“ aber gründet sich auf den Trieb, das einmal erworbene zu erhalten und zu befestigen. Das wird erst wirksam beim Miteinanderleben, Miteinanderleben im Zusammenschluß. „Als das Kennzeichnende der höchsten Kulturentwicklung muß der größt- innigstmögliche Zusammenhang der Lebenden untereinander und mit den vergangenen Geschlechtern bezeichnet werden“. Was haben diese Ratzel`schen Überlegungen zu besagen? Doch wohl, daß es das Kennzeichnende eines Kulturvolkes sei, daß ein Kulturbesitz, ein Kulturerbe weitergegeben wird. Wo aber der Zusammenhang unterbrochen ist, der, der Generationen, der, der Familie, des Dorfes, der von Mensch und Boden, da wird auch dieses Weiterreichen unterbrochen. Und gestört. Das bedeutet: die Kultur eines Stammes, eines Volkes wird gestört. Zerbrochen. Im ärgsten: ein Stamm wird absichtlich in seiner Kultur zerbrochen. D a s aber ist die Situation des deutschen Ostens, die Situation Schlesiens. Es hat einen Eingriff in einen Entwicklingsprozess des menschlichen Werdens stattgehabt, und dieser Eingriff ist absichtlich und gewollt geschehen.

Dieser Eingriff hat zur Folge, daß dem Menschen seine Festgewurzeltheit genommen worden ist. Sein Grund. Das, was wir „Heimat“ nennen. Aber das ist längst noch nicht alles. In diesem Zerbrechen, in dem die festgefügte, und gebildete Kultur in Scherben fällt, in dem auch der Grund, aus dem sie wuchs, verloren ging, geht noch mehr verloren. Es geht verloren und zerbricht das Gewohnte des Lebens. Die tägliche Form. Das Eingebettet sein in Nachbarschaft und Gemeinschaft. Das Gefestigtsein in Elternhaus und Heimatdorf. Das Atmen in der Muttersprache. Das Geschenk Spruch und Lied. Das Vaterland. Der Tisch, an dem man aß. -


Es ist sehr viel an Menschlichem, was hier zerstört und zerbrochen worden ist.

Das „polnische Schlesien“

Wenn man von Schlesien und der Kultur des schlesischen Menschen sprechen will, dann ist die erste Frage, wo diese Kultur ihren Anfang genommen habe. Wenn, wie polnische Stimmen behaupten, Schlesien heute, nach achthundert Jahren zu seiner Mutter heimgekehrt sei, dann wäre Schlesiens Mutter Polen gewesen. Und die schlesische Kultur letztlich auf einem polnischen Grunde aufgegangen.

War Schlesien polnisch? Der „bayrische Geograph“, ein Geschichtsschreiber des 9. Jahrhunderts, zählt vier schlesische Gaue auf: die der Dadosesani und Sleenzane, der Opolini und Golensizi; die Golensizi gehören nach Österreich-Schlesien, die Opolini siedeln um Oppeln, die Sleenzane um den Slenz, den Zobten, das heißt – in der Breslauer Ackerebene, und die Dadosesani wohl an der unteren Oder und an den Heiderändern ihrer Auen. Nicht aufgezählt und anscheinend nicht besiedelt ist das Gebirge, und nicht besiedelt sind die Liegnitz- Bunzlauer Heiden. Auch später erscheinen die Gebirgsländer verhältnismäßig unbesiedelt, zumindest sind sie, wie Niederle, Slovanske starozitnosti angiebt, kroatisch und nicht polnisch besiedelt. Die Heiden westwärts von Liegenitz aber und das Jauer-Goldberg-Löwenberger Vorgebirge? - Wir wissen zunächst, daß die bei Haynau liegenden Dörfer Kreibau, Altenlohm und Aslau erst im späten 12. Jahrhundert angelegt wurden. Sie sind im Wald und im Neubruchland aufgegangen; Lom, das ist „Bruch“, wohl Windbruch, Kreibau: Gesträuch, Gestrüpp. Nicht anders sieht es im Jauerschen Gebirge aus, wo Prausnitz als „Preiselbeerort“ erscheint, und Mochau an die Wildnis denken macht, wo Seichau als Ort des sickernden Wassers noch im 13. Jahrhundert keine offene, besiedelte Landschaft anzunehmen erlaubt. Das heißt, die Landschaft westlich Jauer wird erst im endenden 12., Anfang des 13. Jahrhunderts aufgesucht. Und wie die Namen besagen: von den Polen aufgesucht.

Vielleicht erscheint dieser Schluß sehr kühn. Ich will ihm deshalb ein zweites Argument hinzufügen. Im 12. und 13. Jahrhundert geht eine starke eschatologische Welle durch das Land; man spricht und fürchtet sich vor einer Endschlacht, der entscheidenden letzten Schlacht. Die Endschlacht wird an den jeweils hintersten Grenzen eines Landes ausgefochten. Wenn man wie damals die Türken und die Awaren fürchtet, dann könnte die deutsche Endschlacht an der westlichen Grenze, bei Köln, am Birkenbaum zu Werl, bei Unna, stattfinden. Und wenn der Türke Fünen überzieht, läge der Ort für die letzte Entscheidungsschlacht bei Bogense, das ist am nördlichsten Ende dieser Insel; die Schleswiger verlegen sie in die Königsau, die Schlesier nach Kolbnitz oder Kamenz, das ist am letzten Rande des bebauten Landes. Es führte zu weit, hier alle die Schlachtorte anzuführen, denn es wird bereits sichtbar, daß diese entscheidende Schlacht stets an dem äußersten Rande des Landes, an der hintersten, letzten Grenze gedacht wurde. Warum hat Heinrich II. von Schlesien die Tataren 1241 nicht bei Krakau, nicht bei Ratibor und nicht bei Breslau gestellt? Warum begegnet er ihnen erst bei Liegnitz? Doch gewiß nicht, weil er auf deutschen Zuzug hoffte? Er nimmt die Schlacht bei Liegnitz an, auch als dieser Zuzug nicht kommt. Er nimmt sie an, weil Liegnitz der äußerste Westen seines Landes ist, weil er nicht weiter mehr zurück gehen kann. Das aber sagt doch, daß dieses piastische Schlesien damals nur bis Liegnitz und nicht viel weiter westwärts reichte.


Was aber ist westwärts von Liegnitz? - Wir haben im Katzbachland, im Goldberg-Jauerschen Waldgebirge eine seltsame Sagenüberlieferung. Mir wurden in Haasel, in Wolfsdorf und in Neukirch Sagan mitgeteilt, nach denen ein Spuk , ein Wiedergänger Menschen angreift und zu Tode kitzelt. Der Zug ist meines Wissens in der ganzen deutschen Sage unbekannt. Er ist jedoch verschiedentlich in tschechischen Aufzeichnungen zu finden. Das würde bedeuten, daß tschechische Sagenzüge in das Goldberger Waldland langten. So seltsam das scheint, so sprechen doch mehrere andere Umstände noch dafür. Zunächst die Sage und die Lokalisierung einer wendischen oder sorbischen Gottheit Flins im oberen Quaistale an der Abendburg; man weiß, daß Tschechen und Sorbenwenden sich sehr nahe stehen. Dann weiter, daß eine Reihe Ortsnamen im oberen Katzbachtale aus dem Polnischen nicht, wohl aber aus dem Sorbischen zu deuten sind; das Sorbische hat nämlich im Gegensatz zum Polnischen Nasale. Es handelt sich hier um Orte zwischen Schönau und Lähn. Und manches ist auch dem Laien sehr auffällig und schon zu begreifen. Wir wissen zum Beispiel, daß Burg auf Polnisch grodek heißt; das alte galizische Schlachtfeld Grodek aus dem 1914er- Krieg, der Gröditzberg bei Goldberg lassen das erkennen; das Tschechische lautet grodek zu hradschin , wie jeder Besucher Prags ja weiß, und „Radchen“ heißt das auf halbem Wege zwischen Haynau und Bunzlau gelegene Bergwalddorf, das ganz gewiß von keinem Polen genannt worden ist. Zu alledem - : es zieht durch die niederschlesische Heide von Sprottau und an der Liegnitz-Berliner Eisenbahn entlang bis etwa Armadebrunn, von dort nach Süden gebogen, ein altes Befestigungswerk: die Dreigräben. Das Werk muß sorbisch-wendischen Ursprungs sein; wir kennen entsprechende Werke aus der Muskauer und der Reichenberger, doch keins aus irgend einer wirklich polnischen Gegend. Ein solches Befestigungswerk legt man nicht mitten im Lande, sondern an den Landesgrenzen an; das aber besagt, daß einmal die Bunzlau-Haynauer Heide nach Norden und Osten abgegrenzt und mit Wallanlagen versehen worden ist. Da diese Anlagen vor die Zeit der schriflichen Quellen, also vor das 12. und 13. Jahrhundert hinaufreichen, kann man sie nur den Sorbenwenden zuschreiben und zumessen. Das alles zusammen genommen aber besagt, daß mindestens die Landschaft westlich Liegnitz-Jauer, das Bergwaldland der Jauer-Goldberg-Löwenberger Berge, die Heide und ebenso das schlesische Gebirge nicht von Polen besiedelt gewesen ist. Daß dieses Land deswegen nicht zu seiner polnischen Mutter heimgekehrt ist, als es 1945 in die polnische Gewalt geriet.

Das ehemalige polnische Schlesien war ein kleineres, ein wesentlich kleineres als das heutige Schlesien. Und will man uralte Besiedlungsrechte einmal geltend machen, dann können sie für das westlich Liegnitz-Jauer-Bolkenhain gelegene Land nicht geltend gemacht und nicht erhoben werden. Wo sich hier polnische Inseln fanden, da waren sie im Wege einer späten Kolonisation, des Ausbaues oder als militärische Station enrstanden.


Deutsche Besiedlung


Die Fabel vom polnischen Schlesien ist durch unsere Geschichtslehrbücher vorgetragen und als unumstößlich fest betrachtet worden; wir haben es uns bei einer Betrachtung des alten Schlesiens und seiner Verhältnisse aber doch wohl viel zu leicht gemacht; es wird notwendig sein, das lange Behauptete neu und eingehend nachzuprüfen. Zumindest die Frage nach der Herkunft der Dörfer und Städte am Fuße der schlesischen Gebirge, für die schon Niederle, der slawische und von allen Historikern der Welt als große Autorität getrachtete Ethnologe, die polnische Besiedlung geleugnet hat, wird eine eingehende neue Überprüfung lohnen. Und lohnen wird ebenso, einmal dem Schlesien des 13. Jahrhunderts genauer nachzufragen. Ich greife auch hier nur einiges Charakteristische heraus.

Bei Aslau im Heuwalde liegt der Heuteich. Von diesem Heuteich geht die Sage, daß sich dort alle Freitage eine Waldfrau zeigt, die über dem Teich ihre Wäsche aufhänge. Und die frechen Vorübergehenden aufhucke und sie bestrafe. Die gleiche Sage erzählt man in Hessen vom Hümmwalde und der Hümmelse, und man wird annehmen mögen, daß man die Heuelsensage einst nach Schlesien vertrug. Wer aber vertrug sie? Doch wohl hessische Auswanderer, die nach Schlesien gingen und in Schlesien rodeten und Häuser bauten.


Der Geist des Riesengebirges und vor allem des Riesengebirgsbergwaldes ist, wie jeder weiß, der Rübezahl. Er hauste zuerst im Riesengrunde des Isergebirges, das früher ja zum Riesengebirge rechnete. Wo kommt er her? Wer hat sich diesen Bergwaldgeist erdacht? Die Polen? In ihren Sagen und Erzählungen spielt er keine Rolle. Die Tschechen? Sie kennen zwar einen Pan Ribrcol, doch das ist sichtlich nur der tschechisierte deutsche Name. Wenn aber die Siebenbürgen im 12. Jahrhundert besiedelnden „Sachsen“ , die in Wahrheit Franken aus dem Mosellande waren, von einem Kobolde ropenzogel oder Rübenzahl erzählten, dann ist der Ropen- oder Rabenschwanz ein schon den Deutschen des frühen Mittelalters bekannter und vertrauter Geist, den sie, als sie nach Siebenbürgen zogen, aus der Heimat mitgenommen – denn aus dem Ungarischen oder Rumänischen haben sie den Namen nicht bekommen – und den sie auf ihrem Wanderwege in Schlesien wohl zurückgelassen haben. Das aber bedeutet: der wichtigste und bekannte schlesische Geist ist aus dem Deutschen eingewandert und mit den Deutschen hergekommen.

Deutsch ist die ganze schlesische Sagenwelt, wir werden dann noch ausführlicher von ihr zu sprechen haben.

Deutsch ist das schlesische Dorf und seine Dorfanlagen. Das sich vor allem im Waldgebiete zeigende Waldhufendorf, in dem die Bauerngehöfte entlang der Straße und am Dorfbach stehen, die ganze Dorfflur fiederförmig aufgeteilt, so daß die einzelnen Besitztümer in langen Streifen vom Dorfbach bis hinauf zur Grenze ziehen, und jeder Bauer solch einen Streifen von 70 bis 100 Morgen Land besitzt, und sein Besitz nicht durch die ganze Flur verteilt erscheint, so daß die Bauernländereien mit ihren Feldwegen wie die Adern eines Blattes aussehen, die nach den beiden Seiten bis zum Rande strahlen, - und jeder der Bauern seinen Hof auf dem Kopfende seines Landes hat, das ist die deutsche Siedlungsform des 11. und der folgenden Jahrhunderte. Gewiß, sie reicht bis tief nach Polen, sie zieht sich an den Karpathen hin, - sie reicht jedoch auch bis zum Taunus; man wird, wenn man hier die Entscheidungsfrage stellt, nun fragen müssen: sind polnische Siedler von Polen über Schlesien, Sachsen, Thüringen, Hessen bis zum Taunus vorgestoßen und haben sie diese Dorf- und Flurform ausgestreut, - oder sind deutsche Siedler aus Westdeutschland nach Schlesien und in die Karpathen vorgedrungen? Die Antwort ist ist aus den schlesischen und polnischen Urkundenbüchern unschwer abzulesen.

Was vom Waldhufendorf und seiner Flur gilt, gilt auch von der Stadt. Wir kennen die alte polnische Stadt. Wir wissen, daß sie mit den in Schlesien stehenden Städten wenig gemein hat oder besser nichts. Die schlesische Stadt mit ihrem großen viereckigen Marktplatz oder Ring, - Ring ist ein deutsches Wort, und es bedeutet Platz, - die über Eck gestellte Kirche, die an den vier Ecken des Ringes einlaufenden und rechtwinklig schneidenden Straßen, das alles ist von den deutschen Siedlern vorgeplant und vorgedacht und ist in Holz und Stein errichtet worden. Sie teilten den Marktanwohnern die Grundstücke zu. Sie gaben der Stadt ihr Recht, das Magdeburger Recht, um das sich die Polen in Schlesien und in Polen bald bemühten, es auch zu erlangen. Und dieses Recht galt bis zum Bug und bis zum Dnepr und vielleicht noch weiter.


Wir haben ein schlesisches Märchen vom Fischer und syner Frau; es wurde in Österreich-Schlesien aufgezeichnet, aber Deutsche haben es erdacht, wahrscheinlich im deutschen niederländischen Grenzgebiet ist es entstanden. Wir haben das Märchen von „Tannoppl und Elendla“; eins der entzückendsten Märchen überhaupt, das deutsche Parallelstück ist „die Wassernixe“ (Grimms Kinder-und Hausmärchen Nr.79) , und das stammt aus Hessen, nur daß das Hessische verderbter ist, das Schlesische besser sich erhalten hat. So könnte man fortfahren, stundenlang fortfahren, und würde immer wieder eins und nur das nämliche erfahren: daß Schlesiens Märchen und Sagen, Lieder und Sprüche, Sitten und Bräuche, Glauben, Dorf- Flur- und Hausbauformen deutsche sind. Daß eine durchaus deutsche Welt hier stand. Und, um an Ratzel zu erinnern, ein deutsches Kulturgut und ein deutsches Kulturerbe zerbrochen wurde, als Schlesien zerbrach.


Deutsche Leistungen


Es ist aber hier noch ein weiteres festzustellen. Die internationale wissenschaftliche Forschung ist sich des gewiß, daß auch das von den Polen einst besetzt gehaltene Schlesien im Höchstfalle etwa fünfhundert bis sechshundert Jahre in polnischer Hand gewesen ist. Die Polen, wie überhaupt die slawischen Stämme, wanderten erst im sechsten nachchristlichen Jahrhundert in die ostdeutsche Landschaft ein; sie saßen zuvor ein ganz Stück weiter östlich, in der „Urheimat der Slawen“, das ist im Sumpfgebiet der Pripet, an der polnisch-russischen Grenze. Ehe Polen nach Schlesien kamen, saßen hier schon germanische Stämme, die in der Völkerwanderung weiter wanderten, und vor diesen die Illyrer. Die polnische politisch angeregte Forschung hat es früh begriffen, daß sie auf Schlesien nur dann einen Anspruch würde erheben können, wenn sie es als urpolnisches Land behaupte. Nach dieser Erkenntnis hat sie seit etwa 1910 gehandelt. Die polnischen Vorgeschichtler, an ihrer Spitze Kostrzewskij, wollten wissen, daß Schlesien wie Posen oder Pommern seit den ältesten Zeiten slawisch seien. Sie konnten zwar nur illyrische oder germanische Gräber, Siedlungsfunde, Hausgrundrisse zeigen, sie brachten kein einziges slawisches Fundstück an den Tag, nicht einen ärmlichen Scherben, aber sie erklärten das damit, daß eben der friedliche Slawe stets der unterjochte wäre, und das Illyrer und Vandalen sich als Herren über die bedrängten Slawen setzten. Daß eine Herrenschicht an Zahl die kleinere, eine unterjochte bodensässige Schicht die größere gewesen sei, daß also viel leichter und viel öfter slawische als randalische oder illyrische Funde hätten zum Vorschein kommen müssen, das wurde bei diesem Beweisversuch meistens übersehen. Und übersehen wurde, daß es für den Kulturwillen und die Kraft, ein kulturelles Gut hervorzubringen, der hier vermuteten Bevölkerung nicht eben sprach, daß sie in dumpfer Unterdrückung und in dumpfem leistungslosen Vegetieren durch Jahrtausende bestanden habe. Ich glaube, daß diese Theorie um ihrer Brüchigkeiten und Bedenklichkeiten willen inzwischen auch von polnischer Seite aufgegeben worden ist. Man wird nichts anders sagen dürfen, als was die eben nicht wenigen Chronikschreiber und Berichterstatter aus dem ersten nachchristlichen Jahrtausend lehren: daß um 600 erst die Slawen in die ostdeutschen Landschaften eingedrungen seien.


Doch man muß zufügen, daß sie auch in jenen Jahren nicht allein in Schlesien gesessen haben. Wenn sie die Landschaft, in die sie sich setzten, Schlesien nannten, so gaben sie ihr den Namen nach dem vandalischen Unterstamm, der vorher hier saß, den Sillingen. Ist aber das der Fall, und keiner der polnischen Forscher hat das bisher leugnen wollen, dann müssen doch größere oder kleinere Reste hier geblieben sein, die ihnen den Namen Sillinger überlieferten, das der Slang, der (also Sillingberg genannte) Zobten ein silingischer Kultort war, von dem uns Tacitus in der Germania 43 berichtet hat, und der nun bei den Slawen wiederum ein Kultort wurde. Ich habe vor zwanzig Jahren bereits darauf hingewiesen, daß die uns durch Prokop berichtete Gesandtschaft der vandalischen Ausgewanderten in die alte Heimat (durch die sie den Anspruch auf die niemals aufgegebenen Äcker und Dörfer aufrecht heilten), in das alte Schlesien ging.


Und Schlesien ist auch in diesen polnischen Zwischenzeiten unserem Volke niemals ganz entfremdet worden. Schon Much erkannte, daß die germanische Heldensage so wie in Soest, in Worms, in Bern, auch in den schlesischen Bergen lebte, daß Ende des ersten Jahrtausends nordgermanische Sänger also noch von Schlesien und von seinen Bergen wußten. Wikingische, also nordgermanische Händler kamen von Osten her nach Schlesien herein; wir wissen um sie aus mehreren Grabfunden, wenn jene Wikingerburg in Oppeln auch nur Traum und Spekulation gewesen ist; wir wissen um sie durch einen arabisch-jüdischen Reisenden in den Ländern, Ibrahim ibn Jaqub, der in Krakau und in Prag war, die Krakauer Wikingersiedlung kannte und von wikingischen Handelsreisen sprach; wir wissen um sie aus Zeugnissen des schlesischen Märchens und der polnisch-deutschen Heldensage, die einen Weg von Kiew über den San und Krakau bis nach Mittel- und Niederschlesien feststellen läßt. Doch das sei alles nur einmal erwähnt, weil ich nicht meine, daß aus dergleichen Zeugnissen für das Heute gültige Ansprüche abzuleiten seien, - so wenig wie ich zu glauben vermag, daß eine zeitlich begrenzte, polnische Ansiedlung in Schlesien heute noch aktivierbare Rechte schaffe.


Was Rechte schafft, das sind alleine die Leistungen. Und von diesen Leistungen möchte ich jetzt reden. Als die Piasten die deutschen Bauern riefen, - was war denn bis dahin hier geschehen? Der polnische Landmann, schreibt ein Leubuser Chronist, bestellte den kleinen Acker mit dem hölzernen Hakenpflug; er erntete wenig, und er war ein armer Teufel. Sein Acker war durch ein schlechtes Erbrecht aufs entsetzlichste zerstückelt. Die Städte waren klein und lagen abseits, - und das Land hat keine Einheit werden können. Vier, später sechs Gaue liegen nebeneinander, jeder der Gaue ist von einem Walde und Verhau umgeben, als müsse sich einer vor dem anderen schützen. Der Süden ist in kroatischer und in tschechischer, der Westen von Liegnitz an in sorbenwendischer Hand. Es ist die kleinraumige Wirtschaft einer erwachenden Frühzeit. Aber diese Frühzeit will nicht weiter wachsen, will nicht gedeihen und wacht zu keinem wirklichen staatlischen Gebilde auf.


Was gegen das Ende des 12. Jahrhunderts hier geschehen ist, das ist durch die in vielen Heiraten deutsch gewordenen Piasten ausgerichtet worden. Ich spreche von deutsch gewordenen Piasten, und ich will es wenigstens von einem zeigen: der gegen die Tataren 1241 gefallene Heinrich II. von Liegnitz ist der Sohn der hl. Hedwig, der Tochter des Grafen von Andechs aus dem hohenstaufischen Hause; die Großmutter war Adelheid von Sulzbach und die Urgroßmutter Agnes von Österreich, - das ehemals polnische Piastenblut (das von sehr vielen überhaupt als wikingischen, nordgermanischen Ursprunges angesprochen wird) , ist also in Heinrich II. fast veronnen und vergangen. Wenn Ende des 12. Jahrhunderts erste Kolonisten in das westliche Waldland dringen, wenn man die Straßensicherung in Bunzlau aufrichtet, Gröditz in das Waldland vorschiebt, wenn man bei Goldberg in dem Bergwerksdorfe Kopacz Gold wäscht, - das sind alles doch Piastentaten, sind von schon halben oder dreiviertel Deutschen angestellte Unternehmen. Und daß man das Waldland jetzt von Siedlern aus dem deutschen Westen roden läßt, das will doch Schlesien an den deutschen Westen angleichen, an den Westen, aus dem die Piasten deutsch geworden sind.


Wir können den Weg der Deutschen beinahe Schritt für Schritt verfolgen. Die deutschen Klöster , die im Walde und im Bergwald roden; die deutschen Kaufleute und die Handwerker in den Städten - man muß nur an die Geschichte Breslaus denken – die deutschen Fachwerkhäuser in den Dörfern, die doch aus Franken, Hessen und aus Thüringen hereingekommen sind, die deutschen Sitten, wie das Sommersingen am Sonntag Lactare, das in einem breiten Ostzuge aus dem Heidelbergischen Franken über das Mainland. Thüringen nach Schlesien kam.


Ich sagte, wir könnten den Einzug Schritt für Schritt noch immer sehen, - man kann ihn an keinem Beispiel besser als an der Drei-Kretscham-Sage spüren. Ein Kretscham ist ja ein Gasthaus, ist ein Dorfgasthaus, in dem sich das dörfliche Gemeindeleben abzuspielen pflegte, ein Ausspann, und die großen Ausspanngasthöfe in den Städten hießen ehemals auch so. Um 1599 wird in Bunzlau erzählt: der Anfang der Stadt seien die drei Kretschame gewesen, und man hat noch im zwanzigsten Jahrhundert die drei Kretschame gezeigt, obwohl die ganze Erzählung keinen Grund hat und sie nur als Sage angesehen werden kann. Doch eben die Sage geht auch von Liegnitz; Liegnitz ist ihr östlichster Ort, von dem ich weiß. Dagegen erscheint sie südlich von Bunzlau und umrankt die Anfänge der Stadt Löwenberg. Und westlich von Bunzlau geht sie von Görlitz. Und weiter westlich von Zittau und von Bautzen. Das aber bedeutet: entlang der Straße, auf welcher die Deutschen nach Schlesien zurückkehrten, jener „Hohen Straße“, der Straße durch den tiefen Wald, wird Ort für Ort von den „drei Kretschamen“ erzählt. Die Sage ist eine Art von Meilenstein an dieser Straße. Sie ist der Meilenstein für die rückkehrenden Deutschen, denn daß sie in Zittau und Bautzen älter, in Liegnitz jünger als in Bunzlau ist, läßt sich sehr leicht und deutlich zeigen. Dazu noch eins: es ist das eine Sage, die, wenn sie von Zittau bis nach Liegnitz reicht, und weiter östlich nicht mehr gilt, von neuem den sorbisch-wendischen Raum, den wir vorhin schon als nicht-polnisch ansprachen, sichtbar macht, den Raum, in den die Polen im 12. Jahrhundert zaghaft eindrangen und nie richtig besaßen.


Doch weiter von Schlesien und von jenem Einzuge der Deutschen! Er hat schon vor 1200 stattgefunden, und er schwillt immer an, um sich um 1250 noch zu einer ungeahnten Höhe zu erheben. Er schwillt so sehr an, daß zu Ende des 13. Jahrhunderts Schlesien ein deutsches Land ist, deutsche Städte es füllen und deutsche Bauern seinen Acker ackern, 1335 im Vertrag von Trentschin Polen allen Ansprüchen auf Schlesien entsagt und Schlesien sich in diesem Jahre staatsrechtlich von Polen löst. Und dieser am 24. August 1335 durch die Gesandten des polnischen Königs geschlossene Vertrag wird auf der Fürstenzusammenkunft zu Plintenburg bestätigt und 1339 vom polnischen König persönlich noch bestätigt, ist also das Ergebnis nicht einer augenblicklichen Zwangslage, sondern der historischen und der volksgeschichtlichen Entwicklung. Seit 1335 hat Schlesien mit Polen nichts zu tun. Als im 16. Jahrhundert Friedrich IV. von Liegnitz (dessen trunkfester Marschall jener Ritter Hans von Schweinichen war, der uns das Abenteuerleben seines und des Lebens seines Fürsten ausführlich aufschrieb) sich in Krakau um die erledigte polnische Krone als Piast bewarb, wird er von den Polen abgewiesen; er sei ein Deutscher und man wolle ihn deswegen nicht. Seit 1335 ist Schlesien für die Polen deutsch, und seine Fürsten sind im 16. Jahrhundert für die Polen deutsche Fürsten. Heute Schlesien zur „polnischen Mutter“ heimführen zu wollen, ist ein geschichtlich unmögliches und ganz unbegründbares Unterfangen; man kann, was man sechshundert Jahre lang „deutsch“ nannte, nicht um eine augenblickliche günstige Situation zu nützen, pötzlich wieder polnisch nennen. Um seine Ansprüche zu erheben, braucht Polen stichhaltigere und tragbarere Gründe als die, die es heut gebraucht.


Gemeinschaften des Volkes


Nach solcher Erörterung der „Vorfragen“ ist es nicht schwer, ein Bild des schlesischen Volkstums und der volkgebundenen Äußerungen des schlesischen Menschen aufzuzeigen. Der volkgebundenen Äußerungen, - das behauptet, daß solche nicht-individuelle und gemeinschaftsbestimmte Äußerungen vorhanden seien. Man kann vielleicht sogar behaupten, daß dieser schlesische Mensch in einem sehr starken Maße gemeinschaftsgebunden und -verbunden sei. Das Schlesien, das Friedrich der Große 1740 von den Habsburgern übernahm, war ja ein Bauern- und in seinem gebirgigen Teil ein Weberland; doch diese Weber waren damals überwiegend Häusler, kleine Leute auf dem Land und, wenigstens damals, noch dem Lande irgendwie verbunden. Die schlesischen Städte waren zum größten Teil Ackerbürgerstädte. Sie waren es bis tief ins 19. Jahrhundert, man muß nur einmal Gustav Freytags Jugenderinnerungen aufblättern, um das zu erfahren; da ist von Saat und Ernte, Heumachen, Obstzeit und von den damit verbundenen Sitten, Bräuchen, Meinungen die Rede. Man muß die schlesischen Städte um die Wende zum 20. Jahrhundert kennen, da in den nicht direkt am Markt gelegenen Häusern noch die Erntewagen einfahren, es noch aus den Ställen muht, da noch die Dreschmaschinen rattern, - und in den Museen dieser Städte häuft sich dörflicher, bäuerlicher Hausrat; bunte Laden, blumenbemalte Almer, Spinnräder, Rocken (das sind Wocken- )stangen, Kuchengestänge und dergleichen. Die Städte und Dörfer sind sich hier näher als im alten Land. Sind sich schon sprachlich näher, auch die Städte sprachen bis zur Wende in das 20. Jahrhundert ein der Mundart nahes Deutsch; das Holtei-Schlesisch ist viel mehr ein städtisches Schlesisch als eines aus dem Dorfe.


Das 19. Jahrhundert sah dann noch eine andere Gemeinschaft sich entwickeln, diejenige der „handarbeitenden „Fabriker“. Da sind zuerst die Weber, die damals in die Maschinenwelt eintreten; dann sind es die oberschlesischen Gruben und die Hütten, dann wachsen in den Städten die Fabriken auf. Es ist ein starker Bruch zur vorigen Zeit, in Gerhart Hauptmanns „Sonnenaufgang“ werden Krankheiten dieses Überganges beschrieben. Doch diese Krankheiten sind nicht das Entscheidende und das zu Beachtende: das Wichtige ist wieder der Wille zur Gemeinschaft, das Sichausbilden von Gemeinschaftsformen. Sie bilden sich hier sehr früh, oft früher und viel deutlicher als in anderen Landschaften, und es ist auch anzumerken, daß sich die Führer der neuen Gemeinschaften aus dem Schlesischen rekrutieren; Lasalle ist Breslauer, der Kasematten-Wolff der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ebenso, der spätere Reichstagspräsident Löbe ist Schlesier und so weiter. Man hat gesagt, es sei das slawische Element im Schlesier, das zu den proletarischen Gemeinschaften getrieben habe. Ich glaube, daß man für das gewiß Auffällige eher einen anderen Grund annehmen muß: der in ein anderes Land einwandernde, der siedelnde Mensch schließt sich mit Vorliebe an seinesgleichen an; vielleicht hat dieser schlesische Gemeinschaftstrieb im frühen Siedlungs-Erlebnis des Schlesiers seinen Anfang und den Grund. Daß etwas in jenen Jahrhunderten begonnen, aus ihnen nachgewirkt hat, lehren die Siedlungsformen unserer Dörfer und Städte: es sind nicht irgendwelche Summierungen von Häusern, sondern organisch gewordene und gewollte Gebilde. Man baute in Schlesien nicht die Dörfer, indem man so viele Siedler, wie man eben zur Verfügung hatte, nebeneinander ansetzte, und wenn noch einer dazu kam, ihn dazu setzte, und wenn zwei kamen oder drei auch die. Das Dorf ist schon am ersten Tage fertig und in sich geschlossen; es ist wie ein gerundetes und gewachsenes Lebewesen, nicht nur ein Nebeneinander von Wirtschaften und von Häusern, eine addierte Summe. Und ganz dasselbe gilt auch von der Stadt, wo schon am Tage der Gründung die vier Ringseiten aufgeteilt und die an ihnen Wohnenden ihre Plätze zugeteilt erhalten; man kann sich da später nicht einfach zusetzen oder sich dazwischen schieben. Und wenn man durch viele Generationen, Jahrhunderte lang in solchen Städten und in solchen Dörfern wohnt, da wächst man auch tief in die Gemeinschaft; sie wird dem Menschen langsam selbstverständlich. Es bleibt ja auch heute noch sichtbar. Nichts ist am Schlesier so auffällig, nichts hebt ihn aus anderen ostdeutschen Flüchtlingen so heraus , als daß er nicht einzeln bleiben, nicht allein im Westen sitzen will, - er sucht die schlesische Gemeinschaft, das Heimatvereinbilden ist am Schlesier deutlicher als an anderen. Wie ja die Schlesier auch vor allen anderen 1946 und 1947 auf den Eisenbahnen. - weil sie zusammen wollten, weil der eine ohne den anderen nicht bestehen konnte.

Aus dieser Gemeinschaft, diesen Gemeinschaften aber wuchs „das Schlesische“. Ich nenne „Schlesische“ alles, was der Schlesier mit den Schlesiern gemeinsam hat, was ihn nicht einzeln, sondern einen „von uns“ sein läßt und erweist: der schlesische Charakter, schlesische Mundart, schlesisches Volkstum und – das schlesische Schicksal dieser Jahre.


Die Mundart


Um von dem Auffälligsten und dem unsern westdeutschen Gastgebern am ehesten ins Auge fallenden zuerst zu sprechen: die schlesische Mundart. Es ist eine ostmitteldeutsche Sprache. Das heiß: daß Schlesisch dem Thüringischen und dem Sächsischen nahe steht und das es etwas entfernter auch dem Fränkischen am Main und mittleren Rhein, sowie dem Hessischen nahe steht. Hier meine ich aber vor allem das Schlesisch, das im einst „nicht Polnischen“ lebt: südlich der Bahnstrecke Berlin-Liegnitz und südlich der Autobahn Liegnitz-Breslau, das heißt im alten sorbischen Westen und in Gebirgsschlesien bis nach Leobschütz. Es tritt dazu ein breiterer Streifen, der östlich Breslau, von Zobten-Leobschütz im Süden sich nordwärts zieht und Ohlau bis Oppeln, Oels und Neumittelwalde einschließt, das alte Waldland, welches Mittelschlesien einst von Oberschlesien geschieden hat. Zusammengenommen sind das die Landschaften, die nie polnisch besiedelt worden sind, weil sie im Westen sorbisch, im Süden und Osten Urwald waren, und die der Deutsche erst gerodet hat. Das östlich der Leobschütz-Oppeln-Neumittelwalder Linie gelegene Land heißt Oberschlesien; das ist die Landschaft, in der Polnisches sich lange hielt. Und der Nordwesten, das Land von Breslau auf Trebnitz zu, Glogau und Grünberg, ist das Neiderland, da wo man „eiber de Auder“ geht. Dort nämlich wird ie (ü) zu ei und o zu au, - allein die Ränder weichen davon ab. Das übrige Schlesien aber, die Lausitz und das gebirgige und Waldland, sprechen die bekannte Mundart, die „entrundet“, das heißt die aus ä:e, aus ö auch e, aus ü:ie macht; das lange a wird zu dem a, wie es der Engländer in Water spricht, das lange o zu einem langen u; aus oben droben wird also „ubn drubn“, und im Gebirge macht man das -en zu -a, das -el zu -la, so daß es im Gebirge „uba druba“ heißt.

Entrunden, das nannte der Kantor in der Schule „maulfaul sein“, weil man sich nicht die Mühe gab, ö oder ü zu sprechen. Maulfaul kann man mit einem gewissen Recht auch das nennen, daß wir kein pf sondern nur f sagen, so wird aus „Pferd“ ein „Fa´d“, aus „Pfeil“ ein „Feil“. Nicht aber das Maulfaule ist das Wichtigste an der schlesischen Sprache, mir scheint das Andere, das die Karte lehrt, bedeutsamer zu sein: daß jene Kernlandschaften unserer schlesischen Sprache die Landschaften des nie polnisch gewesenen Schlesiens sind, daß hier die Sprachgrenzen noch ein älteres erkennen lassen.


Der Charakter


Was unsere Mundartdichter schreiben, ist meist ein etwas gelecktes Schlesisch, ist ein städtisches; da kann es auch geschehen, daß sie es schlesischer sprechen als der Bauer, daß heißt, daß sie die Dinge übertreiben. So ist es Holtei schon passiert; da wird aus Zobten: Zuhta und aus persönlich: perschönlich usw. Dagegen die Spottlieder aus dem Dorfe reden echt:


Wißt r denn, wu Kolbe leit?

Kolbe leit im Grunde.

`s hoat gur hibsche Maidla dirt,

`s sein aber faule Hunde . . . .


Ein solch Massives und Grobes ist freilich noch nicht unser bestes Geschütz. Der Schlesier ist kein grobschlächtiger Mensch. Besser als solch ein Spottvers ihn uns zeigt, zeigt ihn das Lied vom Kirchengang, das heute zum Volksliede geworden ist.


Wenn mer Sunntichs ei de Kirche giehn, -

`s woar immer a su, `s woar immer a su, -

bleib mer irscht a wing bem Kratsch`m stiehn, -

`s woar immer a su, a suu.

Doo loo`mer moncha guuda Truppa

ei inse Kahle nunderhuppa,

denn mer sein ju guude Kindalan, -

`s woar immer a su, `s woar immer a suu,

denn mer sein ju guude Kindalan, -

`s woar immer a suu, a suu.


Das Lied zeigt ein gut Stück schlesischen Wesens. Wenn Weinhold einmal behauptet hat, daß Schlesien gern singe und es habe so viel Dichter, daß man sie gar nicht zählen könne, ist das gewiß ein wenig übertrieben. Die Laiendichter gedeihen auch wo anders. Und singen? - So viel wird bei uns nicht gesungen. Die eigentlichen Singelandschaften sind Glatz, sind Österreich-Schlesien, Oberschlesien, sind jene Striche, in denen Deutsches und Slawisches sich mischt, vor allem, in denen Deutsches und Tschechisches sich mischt. Franz Schubert zum Beispiel kommt aus solchem Boden. Und Oberschlesien war es, wo die Kinder, wenn sie im Schulzug heimfuhren, nicht mehr schwatzten, wo sie aus vollem Halse heraus sangen. Und eines muß noch sein: eine Gemeinsamkeit. Es singt sich allein nicht gut und auch nicht lange. Zum Singen gehören vier, fünf oder mehr.


Im niederen Schlesien wird wenig gesungen; ich kenne es im Riesen- und Isergebirge kaum. Im Vorgebirge? Ja, überall dann, wenn man zusammen fröhlich ist: bei Hochzeiten und Feiern, bei Wagenfahrten, etwa des jungen Volkes auf den Gröditzberg, wenns Pfingsten wird und wenn man tanzen fahren will. Da klingen noch alte verwehende Lieder, die im Liederbuche stehen, auf:


Es war einmal ein Graf am Rhein,

der hatte drei schöne Töchterlein.

Die erste wollte die reichste sein,

die zweite ging ins Kloster ein . . . . .


Da lebt denn auch, - und das ist wieder bedeutsam, - in Haymann-Bunzlauer Dörfern noch die „Vogelhochzeit“, die als ein lausitzisches Volkslied gilt. Sonst aber singt man viel Sentimentales. Das heutige Volkslied ist sentimental, das schlesische ebenso gut wie ein anderes. Ins Schlesische klingt aber noch etwas ein, das diesen anderen Vilksliedern ganz fehlt: das traulich gemütliche, das heitere Über-sich-selbst-Lachenkönnen. „Denn mer sein ju seine Kinder . . . .“ und „`s woar immer a suu“, dies Seine-eigene-Schwäche-erkennen, den Fehler, wenns einer ist, sehen und erkennen, und noch lächeln. Ihn zugeben und um Entschuldigung lächeln. D a s ist ein Stück des schlesischen Wesens. Der Schlesier steht Österreich und dem Österreicher nahe. Wie wir ja deutliche Neigungen dorthin haben und uns in Österreich zu Hause fühlen.


Und trotzdem ist Schlesien nicht Österreich. Es fehlt dem Österreicher ein Etwas, das wieder den Schlesier dem Preußen nähert: die beinahe übertrieben wirkende natürliche „Haltung“. Ich denke an den Herrn Vetter unterm Gröditzberge. Er war ein Bauer, ein tüchtiger Bauer. Als wir ihn im Sommer einmal besuchten und gegen zehn Uhr kamen, stand er im Hofe und hatte da zu tun. Er gab uns nur die Hand, geleitete uns ins Haus und war verschwunden, - nach fünf Minuten stand er im weißen Hemd und schwarzen Rocke da. Und sprach der Siebzigjährige mich Jungen, der damals kaum siebzehn war, nie anders als „Herr Vetter“ an.


Ein Drittes: der Schlesier dieser Art, den man am besten im Vorgebirge findet, weiß sehr wohl, was er ist und wer er ist. Er wird sich nicht wegwerfen oder vergessen; er kann nicht kriechen oder dienerisch sein. Der Neiderlandschlesier ist in Gefahr, daß er sich unterordnet. Daß er dient. Daß er gehorcht, nur um der Seligkeit willen gehorchen zu dürfen, - und es mag schon sein, daß hier ein Slawisches zum Vorschein kommt, das sich in Inseln einige Zeit erhielt. Wie er hinwiederum der Fleißigere ist, eine sprichwörtliche Fleißigkeit und Arbeitskraft besitzt und eine sehr große Genügsamkeit aufweist. Vielleicht reicht diese Genügsamkeit jedoch noch weiter, und sie gilt für den Schlesier überhaupt. Das Lied vom Bauernhimmel, in dem der Schlesier sich ausmalt und denkt, wie denn die Freuden des Himmelreiches seien, ist ja ein deutliches Zeugnis dessen:

Wenn ber warn ei a Himmel kumma,

hoat de Ploag a End genumma.

Ei dam Himmel is a Laba, -

nischt wie lauter Kucha, Baaba, -

do aß ber lauter gaale Suppe

aus dam gruußa Uuwatuppe, -

Laaberwirschte, Zwiebelfische

hon mer täglich uff`m Tische, -

Honigschnieta, doß se klecka,

doß ma mecht de Finger lecka,

frassa warn ber wie de Firschte:

Sauerkraut und Laabawirschte . . . . .


Es ist ein sehr bescheidener Himmel in Schlesien, das Fürstenessen ist Sauerkraut und Leberwurst, und gelbe Safransuppe ist ein Hauptvergnügen. Der Mann, der rodet und der einen Acker aus dem Walde haut, der das jahrhundertelang im Wald verwilderte Land erst wieder urbar macht, der sucht ein kräftiges, deftiges, aber doch kein raffiniertes Essen. Es ist im Letzten ein recht bescheidenes Wünschen. Es ist ,als habe die Arbeit ihn so überwältigt, sei all sein denken Arbeit, daß er zu einem Genießen und zum Wohlleben keine Zeit und keine Anlage mehr hat.


Ob ich hier richtig deute, weiß ich nicht und will ich meinetwegen auch dahingestellt lassen. Das aber ist richtig , daß der Schlesier als ein Arbeitsmensch, als froher und fester Arbeiter erscheint. Als einer, der schafft. Vielmehr, das alles nicht mehr ist, es bis in unsere Zeit gewesen ist. Denn das ist die sehr merkwürdige Beobachtung und die Klage, die man im Westen heute immer wieder hört: der Schlesier sei nur ein fauler und lustloser Mensch. Er ist dazu verdorben worden, will ich lieber sagen. Und wieder mag hier an das , was Ratzel davon sagte, erinnert werden: wer eine Heimat fortnimmt, wer die kulturelle Kontinuität zerbricht, zerstört Kultur. Und er reißt aus, was tausend Jahre, Zelle um Zelle, Jahresring um Jahresring gewachsen ist. Er wirft den Menschen, wirft ein Volk und wirft die tausendjährige Leistung eines Volkes in den Straßengraben.


Sitte, Brauch und Glaube


Was sieben- und achthundert Jahre, beinahe tausend Jahre lang geworden ist, ist die schlesische „Kultur“ . Ist die Wort und Haltung und Handlung gewordene Äußerung der Gemeinschaften. Nachdem von Wort und Haltung kurz die Rede war, mag von dem allen, was das Wörtchen Handlung umschließt, andeutend noch gesprochen werden. Ich will zuerst vom Bäuerlichen dieser Haltung etwas sagen. Zu Fastnacht wie in den Zwölften fanden im alten Schlesien Maskenumzüge statt, Schuchteufel oder Scheuteufel hat ein Grünberger sie genannt, da laufen die Burschen verlarvt, in Tierfellen oder in Weiberröcken durch das Dorf, wie sie im südlichen Deutschland, etwa in Baden, im Werdenfelser Land, in der Schweiz, im bayrischen Alpenland heute noch laufen, indessen die slawischen Völker wenig davon wissen. Zur Christnacht wie in der Fastnacht besuchen die Männer das Wirtshaus, tranken und spielten; „da trinkt ihr“, schilt sie ein mittelalterlicher Geistlicher, „bis ihr böhmisch sprecht und habt es doch zeitlebens nicht gelernt!“ So deutet ein Scheltwort an, daß die Bewohner Schlesiens Deutsche sind, nicht Tschechen oder Polen. Vom Sommern der Kinder oder dem „Todaustragen“, wie es die mittelalterlichen Quellen nennen, am Sonntag Laetare wurde vorhin schon gesprochen. Im 15. Jahrhundert erscheint die hl. Walpurgis als Bauernheilige im Grünberger Land, und Grünberg im Norden wie der Riesengebirgs- und Iserkamm im Südwesten sind heut die letzten östlichen Gegenden des in der Nacht vom 30.April zum 1.Mai entzündeten Walpurgis- oder Walpertsfeuers. So zieht sich ein reiches und immer wieder dem deutschen im Westen des Reiches verwandtes Brauchtum tief nach Schlesien hinein.


Man könnte vermuten, daß wo die Kirche Sitten und Bräuche in die Hand nimmt und volksgemäße Äußerungen schafft, daß da die deutschen und nicht deutschen Grenzen sich verwischten, daß Deutsches und Slawisches unverkennbar ineinander fließe. Doch das ist sichtlich nicht der Fall. Der Breslauer Joseph Klapper, ein guter Kenner der mittelalterlichen Handschriften,ist als Katholik der schlesischen Heiligenverehrung wie den schlesischen kirchlichen Übungen nachgegangen. Da findet er etwa, was auch in meiner elterlichen bis an das zwanzigste Jahrhundert noch im Schwange war, die Weihnachtsfeier mit der Weihnachtskrippe, - weil ja der Christbaum erst im 19. Jahrhundert in Schlesien üblich ward. Er findet, daß wie in Niederdeutschland um 1440, in Schlesien die Kinder am Neujahrstage vor die Häuser gehen und singen :

Folge, Kind folge!

Schön ist, schön ist der Engel Schar.

Seid froh, das ist ein Rat.

Ich weiß mir einen Helden;

wohl ihm , der Ehre hat!

Ich weiß in dieser Gassen

einen reichen Mann gesessen.

Petrus, mein Herre,

daß euch Gott ehre,

Gebt uns eine Gabe

zu diesem neuen Jahre;

heuer einen Pfenning,

zu Jahre einen Schilling!


Und danken, wenn sie ihr kleines Geschenk erhalten haben, so wie noch heute die Sommerkinder danken:


Froh, Herre, froh!

Wer zu diesem Ehrhaftigen fährt,

dem ist Ehre beschert.

Also ist uns getan.

Wir fuhren zu einem frommen Mann.


Doch was nun Klapper von den Heiligenverehrungen Schlesien weiß ! Er sagt: „Etwa in jeder sechsten Kirche des mittelalterlichen Schlesiens ist Maria Patronin. Der Häufigkeit nach folgen Nikolaus, der allein in Preußisch-Schlesien einhundertzehn Kirchen hat, dann Martin, der Lieblingsheilige des deutschen Westens, Michael, Johannes der Täufer, seit der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts die Landespatronin Hedwig, Katharina, die in Lied und Bild in Schlesien besondere Verehrung genoß . . . und erst an zwanzigster Stelle erscheint der polnische Stanislaus mit fünf Kirchen. Die heiligen der schlesischen Kirche, des mittelalterlichen schlesischen Kirchenvolkes sind Deutsche, sind nicht vom slawischen Volksteil her bestimmte Heilige. Und Klapper schließt so: „Slawische Einflüsse lassen sich in schriftlichen Quellen für dieses Bild der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit nicht nachweisen, die Zusammenhänge mit Mittel- und Süddeutschland sind offenkundig.“


Wir können hier gleich noch eine entsprechende Frage stellen:Wie steht es um die in Schlesien üblichen Namen? Ich denke da nicht so an die Familiennamen, die erst im vierzehnten Jahrhundert durchdringend und in Schlesien üblich werden, nur an die Vor- und Taufnamen unserer Vorderen. Natürlich hat da der christliche Kalender und die Heiligenverehrung ein bestimmendes Wort gehabt, - doch wieder schlägt auch ein deutlicher deutscher Zug noch durch. „Wie stark in den einwandernden mitteldeutschen Bauern die altdeutsche Namengebung Sitte geblieben war, zeigt uns etwa die Zeugenliste einer Urkunde vom 17. Oktober 1255, durch die Herzog Heinrich III. seinem Höpfnermeister Otto Rechte im Dorf Malkwitz gewährte. Die Hopfenbauern heißen Boppo, Konrad, Wicker, Junckmann, Hermann von Berg, Albrecht, Heinrich, Walter . .. . . .Diesem germanischen Namenschatzte in Schlesien gegenüber sind die wenigen slawischen Namen wie Bogumil, Boguchwal, Cristan und Kasimir um das Ende des dreizehnten Jahrhunderts schon fast verschwunden“.


Was für die Namen gilt, das gilt sehr bald auch für die anderen Ordnungen des Lebens. Es ist im vierzehnten Jahrhundert, in den durch Karl IV. von Böhmen bestimmten Jahren, als man die alte slawische Einteilung der Ackerflur verwirft, als man die deutsche Flureinteilung in den der schlesischen Ackerebene zugehörigen Dörfern einzuführen beginnt. Ich möchte dem gleich noch zufügen: nicht zwangsweise einführt, sondern diese Ordnung als die bessere, für den Bauern brauchbarere übernimmt. Denn, um auch dieses einmal auszusprechen und um Mißdeutungen die Spitze abzubrechen: man nimmt die deutschen Ordnungen und die deutschen Sitten und die deutschen Namen und die aus einer deutschen Heimat einem vertrauten Heiligen an, nicht weil man eine völkische Politik und einen völkischen Egoismus hat, nicht weil man Andersvölkische mit Hass verfolgt, - die „nationalen“ Eifersüchteleien und Stolze spielten damals keine Rolle, - man hält und nimmt und hegt das Deutsche, weil man deutsch ist. Weil einem das alles nah ist und vertraut ist. Und die Entscheidung für deutsche Ordnungen und Bräuche ist kein Beweis für einen völkischen Kampf, für eine völkische Ausbreitungs- oder Verdrängungspolitik, sie ist nur der Beweis, daß in den Städten und Dörfern fast nur Deutsche sitzen.


Das lehrt ein Blick auf die in jenen Jahren in Schlesien umgehenden Dämonen. In Randen entstand um etwa 1250 eine Schrift, in welcher ein Zisterziender über schlesische Aberglauben spricht. Es heiß da etwa: „Wenn sie reich werden wollen, decken sie in der Christnacht den Tisch für die Frau Holde, die sie die Königin des Himmels nennen.“ Frau Holde oder Hulda , das ist nicht eine slawische Himmelskönigin, das ist die alte, währen der Zwölften in den deutschen Landschaften umwandelnde, vorchristliche Himmelsfrau, von der wir bei Burchard von Worm und andern Näheres erfahren.


Dann hören wir weiter: „Sie machen Waschlauge zurecht, legen zu der Schüssel einen Kamm, etwas Hafer und ein Stück Fleisch und stellen das alles an den Abtritt. Dabei sprechen sie: „Teufel wasch und kämm dich, gib deinem Pferde den Hafer und deinem Habicht das Fleisch und zeig mir meinen Mann!“ So nämlich tun Mädchen, die ihren Zukünftigen gern erfahren wollen. Wer ist der Teufel ? Der Teufel des christlichen Glaubens reitet kaum zu Pferde und wenn schon, fordert er gewiß für seinen Gaul kein Futter und einen Jagdfalken oder -habicht trägt er nicht auf seiner Hand; das Bild läßt eher an den zu Pferd umfahrende, allen ritterlichen Übungen zugeneigten deutschen Wode denken, der ja auch zukunftsichtig und weissagend war.


Am Abend stellt sich die Mutter mit dem Kinde auf dem Arm hinter die Haustür und ruft das Waldweib und das eigene Kind ist stille.“ Das ist ein Brauch, den wir auch aus dem deutschen Westen kennen und meines Wissens aus keiner slawischen Überlieferung. Im alten Deutschland ruft man die Hollen oder man geht zu einem Bilwisbaum, um seinem Kinde Gedeihen und Ruhe zu verschaffen.


Ehe sie in ein neues Haus einziehen, graben sie an den vier Eckpfosten Töpfe mit allerlei Dingen ein; auch hinter dem Herde, weil sie glauben, daß dort die Hausgeister wohnen, die sie Stättewalde nennen. Hinter den Herd darf nichts gegossen werden, aber zu manchen Zeiten wirft man Reste von Speisen dorthin.“ Ich will vom Bauopfer und vom Opfer für die Unterirdischen hier nichts sagen; es ist bekannt, und ist in allen deutschen und auch nordgermanischen Ländern üblich. Mich interssiert allein der Name für die Hausgeister oder Kobolde: Stättewalde. Das sind die, die der Stätte walten, die dieses Ortes walten, die am Orte herrschen. Der Name der schlesischen Hausgeister ist ein deutscher Name, wie auch der Name der weihnachtlichen Himmelskönigin ein deutscher ist, und wie die Waldfrau wohl auch keine slawische Waldfrau war.


Was das bedeutet ? Ich glaube, daß solche Namen nur vertragen und aus der alten in die neue Heimat mitgenommen werden, wenn sie dem Menschen was bedeuten. Wenn er noch an die Wesen, die den Namen tragen, glaubt. Sinnloses und Unfuges trägt man nicht mit sich herum, schleppt man nicht als Ballast so und so viele Meilen nach dem Osten. Das festgestellt, bleibt noch ein Zweites und Bedeutsames zu bemerken: der Mensch hat viele Besitztümer. Aber sein wichtigstes und sein bestes Besitztum ist der Glaube. Ist seine Begegnung mit dem Jenseitigen, mag dieses Jenseitige nun der christliche Gott, mag es ein Heiliger, mag es ein Wesen des Volksglaubens sein. In dieses, das eigenste Besitztum eines Menschen aber drängt sich ohne Not kaum ein fremdes ein. Wenn wir die volkhafte Zugehörigkeit des schlesischen Menschen um 1255 wissen wollen, dann wird der Beichtspiegel des Zisterziensers Rudopf uns ein Nützlicher Spiegel sein, er wird erklären, was des damaligen Schlesiers heiliges Gut gewesen sei.


Wir können dem eben Erörterten noch ein Weiteres zur Seite rücken. Das ist die Rübezahl-Gestalt, von der ich vorhin behauptet habe, daß sie von moselländischen Franken in das schlesische Land getragen worden sei. Da ist die vielleicht unbestrittendste Gestalt des ganzen deutschen Dämonenglaubens, die des wilden Jägers. Kaum einer der volkskundlichen oder mythologischen Untersuchungen der letzten hundert Jahre vergaß bei der Besprechung des wilden oder Nachtjägers zu bemerken, daß es sich hier um eine ausgesprochen deutsche Sagen- und Aberglaubensgestalt handle. Und daß die Polen ihn nicht kennten. Noch in den Sammlungen Karaseks, der in den deutschen Sprachinseln Polens Sagen, Märchen, Lieder und dergleichen aufgenommen hat, wird die Gestalt den Polen abgesprochen. Und mit Recht. Ganz Schlesien mit Ausnahme seines östlichen Randes aber hat den Nachtjäger gekannt.


Es wäre verlockend, dem Bilde, das aus der Untersuchung der schlesischen abergläubischen Überlieferungen und Sagen hier gewonnen wurde, ein solches, das aus der Untersuchung der schlesischen Märchen sich ergäbe, an die Seite zu stellen. Was ihnen eigen ist, das ist das freundliche Lächeln, eine spitzbübische Schelmerei, eine trauliche und behagliche Wärme. Was wir als schlesisches Wesen, als den schlesischen Charakter festzustellen versuchten, das alles klingt in den Märchen wieder. Und lebt auf. Es ist von allem, was uns als heimatliches Gut geblieben ist, von dem, was man uns auf der Flucht nicht fortgenommen und zurückbehalten hat, von dem, was trösten und was ruhig machen kann, vielleicht das nächste und das beste.

Wir sollten es als das letzte uns verbliebene Schlesische sorglich halten und behalten.


Es ist mit einem für die Beschreibung des Schlesiers wohl noch wichtigeren Gut nicht anders. Es gibt kein Land in Deutschland, das ebenso reich an Schnoken und Schwänken war als unser Land. Das spöttliche Lachen wie das lösende heitere Lachen, das rätselnde Lachen hatte bei uns seinen Ort. Wir haben sehr wenig davon aufbehalten, weil meine Sammlungen sinnlos vernichtet in den Haaseler Wiesen liegen. Wir haben nur einige kurze Schnoken, einige Anekdoten, die ich in meinem Buche „Schlesisch“ 1937 druckte. Ich will aus diesem Buche eine Geschichte mitteilen, weil sie sehr schlesisch ist, weil sie nicht nur den Schlesier zeigt, der sich eins pfeift und alles wie einen Regenguß von sich ablaufen läßt; weil sie vielmehr den zeigt, mit dem nicht mehr das Leben spielt, der selber mit dem Leben spielt:


Beim Ulbrich-Pauer, der im Niederdorfe wohnt, - er hatte eine ganze Herde Jungen, - da kam der Quegber-Ernst vorbei. Die Jungen tollten auf der Straße rum und über die Baache, die Hochwasser hatte, gings rüber und nüber, daß man rein derschrak. Es waren ock alles solche Pääpel. Da nimmt der Quegber sich den größten, - er mochte wohl reichlich sieben sein, - und schipft: „Nee, ihr verpuchta Junga! Ihr hiert mit eurem Rimgefliege oo nie uff, bis eener wird ersaufa ei der Baache!“ - Da spricht der bloß: „Doas schodt`m nischt. Mer sein er ju genuug!“


Und wer nun fragt, ob diese Philosophie und diese Lehre, die eine wahrhaft schlesische Philosophie und Lehre ist, vom Deutschen her komme oder von den Polen, dem will ich aus der Umgebung des Pat Quegber noch ein Sprichwort hierher rücken, das einen Weg für die Beantwortung dieser Frage weist: Es spricht ein Mann, der sich in einer schwierigen Lage trösten muß. „`s hoot er oo gude drunder, soite der biehmsche Flauma-Moan.“


Ein Weg zu einer Beantwortung - ? Ich will noch einmal Klapper mit seinem Wissen aus den Handschriften zitieren: „Slawische Sprichwörter auf schlesischem Boden sind auch noch im 15. Jahrhundert nicht nachzuweisen. Das deutsche Sprichwort dagegen blüht in Schlesien reicher als in anderen deutschen Landschaften . . . . Von solchen Sprichwörtern sind bisher etwa fünfhundert nachzuweisen. Ihre Hauptmasse geht auf die meißnische Heimat schlesischer Siedler zurück. Das Verbreitungsgebiet der Sprichwörter ist im Mittelalter zunächst die Gegend von Sagan-Glogau bis nach Frankenstein-Kamenz-Brieg. Wir ersehen daraus, wie stark das von Nordwesten her zugewanderte Bürger- und Bauerntum dem meißisch-thüringischen Ausgangslandes in seinem Volkstum verpflichtet geblieben ist.“


Schicksal


Es ist genug. Ich habe die schlesische Volksüberlieferung in Sitte und Brauchtum, Märchen, Sage, Volkslied, Aberglauben, Sprichwort, Heiligenglauben, Namensgebung durchgemustert, ich habe von dörflicher und von städtischer Siedlung kurz gesprochen, - es ist ein deutsches Schlesien, das wir schon im Mittelalter finden.

Ein Schlesien, das nirgend als polnisches oder tschechisches sichtbar wird. Ein Schlesien, das gleichen Atem mit dem Reiche im Westen hat, mit ihm zusammen wächst – und hüben und drüben ist`s der selbe Schritt, der selbe Mensch, der selbe Glaube und – der selbe Gott.


Bis heute das Schicksal Schlesien und den Westen scheidet. Das Schicksal, das Schlesien und Deutschland scheidet, - hat es Schlesien denn von Deutschland abgeschieden?

Was ist das Schicksal? Daß heut achthundert Jahre Arbeit weggeworfen sind, weil unsere Äcker verstrauchen und verunkrauten und zur Wüste werden.

Daß unserer Mütter Gräber eingeackert werden. Der Vater liegt draußen verhungert, an dem Straßenrain verscharrt.

Daß unsere Städte Schutt und Asche wurden.

Das könnte für uns genug sein, aber es ist damit längst noch nicht genug. Und noch nicht ausgesagt, wie unsere Frauen und Töchter ausgetrieben wurden, nachdem sie verloren, was man ihre Ehre nennt.


Daß Tausende in den schlesischen Bergwerken noch im Frontdienst sind. Daß sie für Polen optieren, - und die Zeitungen schreien es in alle Welt, wie man die Menschen gefügig zum Optieren macht.

Es könnte genug sein, aber es immer noch nicht genug.

Ein Viermillionenvolk hat acht Jahrhunderte lang gebaut, und hat in seinen Besten eine schlesische Kultur geschaffen, die einen Baumeister wie den Mönch von Grüssau trug, die einen Maler gab wie Menzel, die Dichter wie Carl Hauptmann und wie Gerhart Hauptmann gab, die Gläubige wie die hl. Hedwig und die Sucher wie den Lausitzer Jakob Böhme gab. -


Und eine gewordene und gewachsene Kultur ward roh zerbrochen und zerstört. Zerstört? - „Man kann es doch fortsetzen.“

Man könnte die Werte, die geschaffen wurden, übertragen, in das Altreich übertragen, wie man die schlesischen Menschen in das Altreich schafft und sie dort irgendwo in Bunkern, Baracken, Elendssiedlungen unterbringt“. - Nur daß Kultur, wenn eine Kulturkontinuität zerbrochen, wenn ihre Träger auseinander gerissen und verstreut, vereinzelt sind, wenn ihr der Wurzelgrund genommen wurde, nicht mehr lebt. Daß sie ein dürres Relikt ist. Ohne mehr als einen historischen, anekdotischen Wert. Und daß man heute vier Millionen Wurzelgrund und Halt genommen hat. Und vier Millionen, die man gern bessern möchte, weil sie nationalsozialistische Irrlehren Glaubten und in ihren Sittlichkeiten nicht ganz fest gewesen seien, nun wie die Spreu hinaus streut in den Wind. Und ihnen das nahm, an dem sie haften müßten, wenn sie noch einmal werden wollten, den Acker, das Haus, die tätige Arbeit, - allein damit die Äcker wüste werde und die Häuser niederbrechen und verfaulen. Und ihrer Jugend nahm, was diese jungen Menschen leiten und auf gute Wege führen konnte, das Elternhaus und seine Geborgenheit und Zukunft, - und sie auf die Schwarzen Märkte jagte, sie heimatlos in allen Zonen irren ließ, und die Bordelle füllte. -

Und wer fügt dieses Zerbrochene noch einmal zusammen?

Und wer gibt diesen inhaltsleeren Leben wieder einen Sinn?

Und was soll dann der Sinn sein, den sie haben könnten?

Ist das der Sinn, den unsere schlesischen Sprichwörter nahe legen? Wenn mer nich ei a Himmel kummen, do machen mer ins haußen ane Lust?

Ist das der Sinn: Wie wär`sch, wenns noo schlimmer wär?

Ist das der Sinn: Wenns Gott will, doß de obbrenn´n sullst, troi`s ei Geduld und wärm dich droa.

Ist das der Sinn: Mer sein er ju genug, Paot Quegber?`s schodt`m nischt.

Ich glaube, daß wir mit solchem Sinne Schlesien niemals wieder haben werden. Ich glaube, daß nicht mehr ausreicht, was in diesen Lehren steht.

Wenn aber das uns nicht gilt, wozu dann reden wir heut überhaupt davon? Wozu bemühen wir unsere schlesischen volkskundlichen Überlieferungen? Nur um des Kuriosen und um eines Zeitvertreibes willen?


Zunächst - sind diese Sprichwörter schlesische volkskundliche Überlieferungen? Ganz gewiß.

Jedoch sind sie auch das Kulturgut? Jenes Gut, von welchem Ratzel sprach? Das Gut, das vier Millionen in achthundert Jahren schufen?

Es sind volkstümliche Überlieferungen. Es sind Sprichwörter, die die Schlesier brauchen. Nicht aber: die Schlesier fanden. Und als Gültigkeiten setzten. Man kann die gleichen Sprichwörter auch in Thüringen und Sachsen hören. Sie zeugen vom schlesischen Deutschtum – aber was wir schließlich suchen, ist ein Mehr. Wir suchen das s c h l e s i s c h e Kulturgut, das vom Schlesier und allein vom Schlesier allein gefunden wurde. Das Gut, um dessentwillen er da war. Schlesien war. Aus dem allein ein „schlesisches Volk“ auf einer Waage menschlichen Geltens einmal gilt.


Ich habe im Striegauer Kreise diese Sage aufgeschrieben:

In Laßwitz starb ein Bauer, und die Leute sagen, er war ein tüchtiger und vernünftiger Wirt gewesen. Streng war er; mußte seine Ordnung haben, und in der Arbeit sah er keinem etwas nach. Das ist wohl wahr. Das aber ist auch wahr, dem Vieh und seinem Gesinde darbte er nichts ab. Und wenn es nötig war, da griff er selbst zu, - Ganz so, wie eben ein gerechter und vernünftiger Bauer ist. Der starb, und wie die Leute ihn nun begraben wollen und gehen mit dem Sarge auf den Schultern aus dem Tore, da steigt die eine Magd, die unterdessen nach der Wirtschaft sieht, zum Boden hinauf, wo sie die Siedekammer haben, denn sie will Siede holen zur Tränke für das Vieh. Dort aber steht der Bauer an der Siedelade und schneidet Stroh. Die Magd schreit auf, - da soll vielleicht ein Mensch nicht erschrecken, - und spricht: „Ich denke der Herr werd hinte begroaba?“ Der aber fläschelt blos und gibt der Magd bescheid: „Ni, ni; begroaba, wenn es keene Siede hoot!?“


Die Sage scheint albern. Aber sie ist es vielleicht nicht. Sie spricht davon, daß einer zu vielem keine Zeit hat, auch zum Sterben keine Zeit, daß einer erst sterben kann und sich zur Ruhe nierderlegen kann, wenn alles getan ist, was er tun muß. W o z u e r g e r u f e n w a r.


Das ist es! Was einer tun muß! Was getan sein muß. Nicht, daß man sich so zufrieden gibt und tröstet: Wenn wir nicht in den Himmel kommen, da machen wir uns eben haußen eine Lust. Sondern - : es gibt für uns kein „Haußen“. Es gibt für uns nichts anders und gibt weiter nichts, als daß, um bildlich zu bleiben, Siede geschnitten wird. Wenn ich es anders sagen soll: es gibt für uns nur eins: den Weg zurück. Nach Hause! Und in das Dorf, das nicht mehr steht. In unser Haus, das niedergebrochen und dessen Gesperre von faulen Burschen ausgesägt wurde und verheizt. Zum Kirchhof, auf dem die Mutter liegt, auch wenn der Pflug schon über diesen Kirchhof ging. Zum Kirchhof, auf den ich mein Weib begraben will, das haußen starb, am Heimweh und am Arbeiten für Schlesien starb. Und das ich nicht haußen liegen lassen mag.


Wir müssen auf bleiben, und wenn wir können nicht fortgehen, ehe nicht die Siede geschnitten ist.


Wir m ü s s e n die Siede schneiden. -

Wir können und dürfen nur das im Gedanken haben, was diese Sage Siede nennt. Wir w e r d e n die Siede schneiden. Das ist kein billiger Optimismus. Und ist kein liederlich Versprechen. Ich weiß, es ist das Schwerste, was ich will. Ich weiß, ich werde es vielleicht nicht erleben. Man wird mich vielleicht auch erst als Toten heimfahren – in die Heimaterde. Ich werde bis an den letzten Odem aber Schlesien wollen.

Ich werde nicht ablassen. -

Ich hab im zerbrochenen Auto eingequetscht gelegen! Ich habe nur noch ein böses Atmen und nur einen Schimmer Sehen! Ich hab mein Weib aus jenem Auto tot herausgeholt! Wir fuhren um Schlesien! Um den guten Frieden.-

Und ich werde wieder um ihn fahren.

Und wieder um Schlesien fahren!

Ich werde nicht ablassen. -

Wir werden nicht ablassen, bis uns Gott doch gnädig ist.

Gott ist die Gnade.


Entnommen aus dem Buch „Wir Schlesier“, von Karl Turley (1949)