Das Leben auf der „stillen Dorfstraße“

Eine Plauderei aus vergangenen Tagen

von R.Brinke


Unser Dorf Schwarzbach lag abseits vom Verkehr. Die beiden sehr belebten Verkehrsstraßen. Die Schmiedeberger Straße und die Stonsdorfer Straße, von Hirschberg kommend, eilten östlich und westlich unseres Dorfes dem Gebirge zu, berührten es nicht. Der Verkehr im Dorf selbst setzte jeden Morgen sehr zeitig ein.

Aus den kleinen landwirtschaftlichen Betrieben, deren Erträge für eine Ackernahrung nicht ausreichte, gingen ihre Männer als gelernte und ungelernte Arbeiter, ebenso die Besitzer der Siedlungshäuser sowie ihre Mieter und die Mieter aus allen anderen Häusern nach auswärts ihrer täglichen Arbeit nach. Auch viele Frauen und bald alle jungen Mädchen unseres Dorfes arbeiteten in Tagesstellungen in Büros, als Verkäuferinnen oder in Fabriken in der Stadt oder in den großen Nachbarorten, So pendelten täglich männliche und weibliche Arbeitskräfte nach Hirschberg-Cunnersdorf, nach Erdmannsdorf, - kurz gesagt – nach allen Himmelsrichtungen und auf der stillen Dorfstraße herrschte bereits am frühen Morgen starker Verkehr.

Zu Fuß, auf dem Fahrrad oder auf dem Motorrade strömten sie ihren Arbeitsstätten zu. Die Männer, die dem Bauhandwerk angehörten – und deren Zahl war bei uns recht groß – mußten häufig das Bett recht zeitig verlassen; denn nicht immer befanden sich ihre Arbeitsstätten in Hirschberg-Cunnersdorf oder in nächster Nähe, oft weit hinter Hirschberg oder in den oberen großen Gebirgsdörfern.

Etwas später, aber auch noch am frühen Morgen, fuhr jeden Tag bei jedem Wetter unverdrossen der Landwirt Reinhold Bayer mit seinem Gespann von Gehöft zu Gehöft, wo er die mit Vollmilch gefüllten Milchkannen abholte, sie nach Hirschberg-Cunnersdorf zur Molkerei brachte und ein paar Stunden darauf die leeren Kannen wieder ablieferte. Ein recht tragisches Geschick traf diesen schlichten, einfachen Menschen und seine Frau. Während die am „Hitler-Marsch“ beteiligten Familien sich nach 2 Tagen, manche sogar schon am nächsten Morgen, wieder einfanden, ist das Ehepaar Bayer nicht mehr in die Heimat zurückgekehrt, es starb einige Wochen später an Unterernährung, nicht weit von Görlitz.

Aus den Nachbarmühlenorten kamen jede Woche ein paar mal große Müllerplanwagen ins Dorf, die von starken und gutgenährten Pferden gezogen wurden. Die Müllerkutscher liefen von Haus zu Haus und versorgten die einzelnen Familien mit Brot und Semmeln. Den Landwirten tauschten sie das Brotgetreide in Brot und Mehl um. Der eine dieser Müllerkutscher war äußerst beliebt bei allen seinen Kunden. Er bespaßte sich viel mit den Kinder und den Erwachsenen hat er zu gern mit toternster Miene „mächtige Bären“ aufgebunden, und er freute sich dann königlich, wenn sie seinen Lügenmärchen Glauben schenkten. So war er bei Groß und Klein als „Lügen-Scha---“ bekannt.

Während der Milchwagen täglich zweimal durchs Dorf fuhr, stellte sich bei uns im Sommerhalbjahr jede Woche einmal ein Gefährt aus der Hirschberger Brauerei, dem „Langen Hause“ ein. „Der Biermann ist da“, riefen die Kinder. Jedes Kind kannte ihn schon von weitem, bestand doch die Wagenladung aus einem riesigen Faß, das mit alkoholfreiem Einfachbier, auch Jungbier genannt, gefüllt war. Sein Kommen kündigte er durch lautes Läuten mit einer großen Glocke an, die am Wagen angebracht war. Sofort erschienen Frauen und Kinder mit Kannen, Krügen und Eimern, die er ihnen mit der dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. In einem Abstande von 500 bis 600 Metern hielt der Wagen und neue Kunden wollten bedient werden. So pendelte er mit seinem Pferdefuhrwerk bis ans Dorfende. Im Hause wurde dieses Jungbier mit etwas Wasser verdünnt, in Flaschen gefüllt, gut verkorkt und in einem kühlen Raume aufbewahrt. Schon nach 2 Tagen konnte dieses köstliche Naß getrunken werden. An heißen Sommertagen, vor allem während der Erntezeit, mundete dieses erfrischende und durststillende Getränk vortrefflich. Wollte eine Mutter ihren Kindern eine besondere Freude bereiten, so verbesserte sie den Geschmack des Bieres mit einem Schuß Himbeersaft. O, Das schmeckte den kleinen Leckermäulchen. So versorgte der Biermann die gesamte Bevölkerung des Dorfes mit einem wohlschmeckenden, gut bekömmlichen und billigen Getränk. Unverdünntes Jungbier, bald in Flaschen gefüllt hatte manchmal zur Folge, daß bei einigen Flaschen „Selbsentladung“ erfolgte, und der Korken mit großem Knall hoch in die Luft flog.

Im Laufe des Sommers ließ sich auf unserer Dorfstraße einige Male der Leierkastenmann mit seiner Drehorgel sehen, die auf einem Wägelchen stand, das durch Menschenmuskelkraft fortbewegt wurde. Ehe Grammophon und Radios in die Dörfer drangen, war der Leiermann ein gern gesehener Mann, brachte er doch etwas Musik ins stille Dorf, wenn auch in sehr bescheidener Form. Sobald er die Kurbel seiner Drehorgel in Bewegung setzte, umstand sein Gefährt eine fröhliche Kinderschar. Abwechslungsreich war sein Musikprogramm nicht. Es enthielt nur drei bis vier verschiedene Musikstücke und begann in der Regel mit einer Choralmelodie, der dann mehrere Tanzstücke folgten. Während er sein Musikprogramm abspielte, lief seine Frau von Haus zu Haus, um geringe Geldbeträge für sein Spielen einzusammeln. Die Spenden bestanden meistens in Kupfermünzen, die damals noch hohe Kaufkraft besaßen. Nachdem er sein Programm abgespielt hatte, zog er ein Stück weiter, und wieder drehte er fleißig die Kurbel. So gelangte er allmählich bis an das Ende des Dorfes. Die Leierkastenmänner bildeten bald eine Zunft für sich. Noch um die Jahrhundertwende waren es bein- oder armamputierte Krieger aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870-71, die zur Ausübung dieser Tätigkeit einen Gewerbeschein ausgestellt erhielten, Wahrscheinlich ein bitteres Brot; denn nicht immer schien bei ihren Fahrten durch die Dörfer die warme Sonne vom Himmel nieder, und verschieden groß war die Gebefreudigkeit der „lieben“ Mitmenschen. Wenigstens einmal im Sommer erschien ein Mann im Dorfe, der auch sein Gewerbe auf der Dorfstraße betrieb. Das war der Scherenschleifer. Auf einer ein- oder zweirädrigen Karre befand sich der große Schleifstein, den er mit dem Fuß in Bewegung setzte und auf dem er die stumpfen Scheren und Messer der Dorfbewohner schärfte.

An jedem Donnerstag war der Verkehr auf der stillen Dorfstraße stärker als an den übrigen Wochentagen. Und das hatte auch seinen Grund. In Hirschberg fand am Donnerstag der große Wochenmarkt statt, der auch von den Schwarzbacher Erwachsenen fleißig besucht wurde. „Man“ wollte dabei sein, „man“ wollte das Marktleben mitgenießen. So waren immer recht viel Frauen und Männer dabei. Einige Frauen zogen ein Leiterwägelchen hinter sich her und andere schoben einen altmodischen Kinderwagen vor sich her, in denen sie landwirtschaftliche Erzeugnisse transportierten und in der Stadt gegen Lebensmittel einhandelten. Nach Schluß des Marktes ging es schnellen Schrittes wieder heimwärts.

Wenn ich bis jetzt das „Leben auf der stillen Landstraße“ schilderte, so muß ich – der Vollständigkeit wegen – zuletzt auch die „Ritter der Landstraße“, die Bettler erwähnen, die damals bald zu einer Landplage wurden. Bei ihren Gängen durchs Dorf ließen sie kaum ein Haus aus, um daselbst den Bettlerpfennig, eine Brotgabe oder ein Mittagessen in Empfang zu nehmen.

So also vollzog sich „das Leben auf der stillen Landstraße“.



Entnommen aus „Schles.Bergwacht“, SB63/N28/S509