KREUZE am Wegesrand

von Walter Finke



Für den heimatlich interessierten Wanderer boten sich in Schlesien tausend Möglichkeiten, den Spuren unserer Väter nachzugehen. Erhabene Schöpfungen der Architektur, reichhaltige Museen mit den Zeugen einer bewegten Vergangenheit und einer vielseitigen handwerklichen Kunst und nicht zuletzt die Landschaft selbst kündeten uns vom Leben derer, die vor uns waren.

Wer über die Fluren des Riesengebirgsvorlandes schritt, dem mußte insbesondere die große Zahl von Steinkreuzen auffallen. Sie standen an Kreuzwegen, Dorfeingängen, auf Wiesen und an Waldrändern oder im Dorf selbst. Die Jahrhunderte sind nicht spurlos an ihnen vorüber gegangen; Wind und Wetter haben die Kreuzenden abgerundet, und manches Kreuz hatte sich schon tief zur Erde geneigt. So mag manches dieser alten steinernen Denkmäler im Laufe der Jahre gänzlich versunken sein, andere wieder wurden vom Landmann beseitigt, weil sie vielleicht im Wege standen. Die Kreuze waren von Gespensterfurcht umwittert, und besonders zur Nachtzeit waren sie gern gemieden. Was könnten sie uns alles erzählen!


Schon die Meinungen über die Zweckbestimmungen der Kreuze gingen in Forscherkreisen oft auseinander. Bald sah man in ihnen Missionskreuze aus der Zeit der Heidenbekehrung unter Cyrillus, bald sollten sie altgermanische Thingstätten bezeichnen, oder man bezeichnete sie kurzweg als Sühnekreuze.

Einleuchtend ist, daß die Kreuze frühestens nach Eingang des Christentums in unserer Heimat entstanden sind; sie können also niemals eine germanische Kultstätte kennzeichnen. Ihre Bedeutung als Missionskreuz ist ebenfalls wenig glaubhaft, zumal viele von ihnen an abgelegenen Stellen stehen, oft fernab der nächsten Ortschaft. So blieb nur noch die letztere Deutung übrig, in ihnen Sühne- bzw. Gedenkkreuze zu sehen.


Die Sühnekreuze, zu denen der größere Teil gehört, sind Wahrzeichen der alten Rechtspflege, wie sie um 1300 in unserer Heimat ausgeübt wurde. Damals waren die Strafen für Verbrechen ungewöhnlich hart und die Vollstreckung der Todesstrafe oft recht grausam. Angesichts der Verrohung im Strafvollzug wurde das Gnaden- oder Asylrecht im gesteigerten Maße angewendet. Verschiedene Orte wie Klöster, Kirchen, Mühlen, Wirtshäuser und Fähren erklärte man zu sog. Freistätten. Hierher konnte sich ein Täter flüchten und war vor der Festnahme auf handhafter Tat sowie vor der Rache der Angehörigen eines Getöteten sicher. Von hier aus konnte er die Sühneverhandlungen beginnen.


Die schlesischen Stadtarchive bewahrten bis 1945 noch viele Ratsprotokolle und Sühneverträge auf. Die Sühneverhandlungen gingen in der Tat so vor sich, daß ein Mörder oder Totschläger anstelle der Todesstrafe sich verpflichten mußte, für die Angehörigen des Getöteten die Sorge zu übernehmen. Auch konnte eine bestimmte Summe Geldes das Verbechen sühnen. Hinzu kam in der Regel eine Bußfahrt nach Rom oder einen anderen berühmten Wallfahrtsort sowie die Lieferung einer ansehnlichen Menge Wachs an die Kirche. Schließlich hatte der Täter die Pflicht, dem Toten ein Kreuz zu setzten. Es wurde meistenteils aus Stein gehauen, enthielt oft den Namen des Täters und des Getöteten und darüber hinaus eine Abbildung des bei der Tat verwendeten Mordwerkzeuges, z.B. ein Beil, einen Dolch oder wie im Falle des Sühnekreuzes von Waltersdorf, Kreis Löwenberg eine Armbrust.


Das Kreuz fand am Tatort Aufstellung, wogegen der Getötete selbst nur in wenigen Fällen darunter bestattet wurde. Weil das Kreuz nicht nur das Andenken an den Toten wachhalten sondern auch den Vorübergehenden veranlassen sollte, für das Seelenheil des durch Gewalttat ums Leben gekommenen zu beten, fanden Kreuze sehr oft an stark begangenen Orten Aufstellung, z.B. an Kreuzwegen


Blieb ein Verbrecher unbekannt, oder entzog er sich nach vollbrachter Tat der Strafverfolgung durch die Flucht, entsprach es dem Volksbrauch, dem Getöteten ein Erinnerungskreuz zu setzen.


Im folgenden wollen wir einige Steinkreuze aufsuchen, wie sie in unserer Heimat hie und da zu finden waren:


Auf einer Wiese am südlichen Ende von Tschischdorf, 800 m vom Dorf entfernt, steht ein Kreuz mit der erneuerten Jahreszahl 1526. Und auf der Höhe zwischen Tschischdorf und Langenau, „Auf dem Kreuze“, stand ein weiteres Kreuz. Auf seiner Rückseite ist eine dolchartige Waffe eingemeißelt. Am Wege von Flachenseiffen nach Langenau standen gleich zwei Sühnekreuze nebeneinander; eines trug auf seiner Rückseite ein Schwert eingemeißelt, das andere einen Dolch.


Ein im Gemeindeschöppenbuch bestätigtes Kreuz finden wir in Deutmannsdorf mit der in neuerer Zeit aufgefrischten Inschrift:

Am 2. Juni 1901 wurde hier die Braut Maria Rosina Wetzel auf dem Wege zur Trauung mit Ignatz Gabriel von ihrem ehemal. Bräutigam erstochen“.


Weit über den Ort hinaus bekannt ist das „Mordkreuz“, welches in der Nordostecke des Pfarrgartens von Schmottseiffen steht. Darüber ist eine allerdings nur sehr unsichere Nachricht mündlich überliefert worden:


Um 1809 (?) wurde hier die Magd des ehem. Kantors am Fuße des Kirchberges ermordet. Sie hatte mit einem jungen Menschen ein Liebesverhältnis unterhalten, das nicht ohne Folgen blieb. Der Mörder verschwand bald nach der Tat aus dem Ort und entzog sich dadurch dem Strafrichter. In den Kriegsjahren 1813/15, als mehrere Soldaten in der Scholtisei hier Quartier bezogen, fragte einer davon den Wirt, ob er ihn vielleicht noch kenne. Der Wirt sah erstaunt den Mörder der Kantorsmagd vor sich, welcher augenblicklich flüchtete und nie wieder gesehen wurde.


Zwischen Rabishau und Birngrütz befindet sich ein Kreuz mit folgender Inschrift:


Am 28. Januar 1882 früh in der 6. Stunde starb hier durch Mörderhand bei einem Gang zum Bahnhofe der Butterhändler Franz Menzel aus Birngrütz im Alter von 55 Jahren. Dieses Denkmal errichtete seine tieftrauernde Gattin Josepha Menzel geb.Kluge und die trauernde Tochter Karoline Menzel“.


In Neu-Flachenseiffen, kurz vor der Kreisgrenze, steht am Wege ein Holzkreuz; es erinnert an den Tod eines gefallenen russischen Soldaten (nach Auskunft eines Heimatfreundes aus der Buschkate soll es sich hierbei um einen russischen General handeln).


Bei Grunau steht ebenfalls ein Gedenkkreuz für russische Soldaten, welche im Befreiungskriege auf preußischer Seite kämpften. Es ist aus Stein gehauen und die Inschrift meldet:


Hier sind 3 vorm Feinde gebliebene russische Kosacken beerdigt den 22. August 1813“.


Zu den Sühnekreuzen scheint dasjenige von Berbisdorf zu zählen. Es steht am unteren Ende des Dorfes in einem Gartengrundstück. Ein Dolch und die Jahreszahl 1625 sind eingemeißelt. Nach der Überlieferung gerieten hier zwei Handwerksburschen „wegen einer Quarkschnitte“ in Streit“.


Den Ort eines Verbrechens bezeichnet ein Granitblock, der an der Straße von Agnetendorf nach Kiesewald führt. Er steht etwa 100 m von dem ersten Hause in Kiesewald entfernt und ist von Tannen umgeben. Unter einem eingemeißelten Kreuz liest man folgende Nachricht:


Hier fand seinen Tod G. Maywald den 17. Septbr. 1838“.


Lange schon spricht jener schlichte Gedenkstein im Riesengebirgswald seine stumme Sprache, und sachlich berichtete das Totenregister der Kirche zu Petersdorf über den „gewaltsamen Tod“ des im Dienst ermordeten Beamten, dem herrschaftlichen Revierjäger Christian Gottfried Maywald. Der Wanderer aber, welcher den Stein am Wege wahrnimmt, weiß nichts von den Ereignissen jenes Septembermorgens. In Kiesewald war Kirmes. Viele auswärtige Gäste nahmen daran teil, unter ihnen auch drei „Böhmische“, nämlich der lange Johannes Eichler aus der Eichlerbaude unterhalb der Bradlerbaude, sowie ein Andreas Hallmann mit seiner Frau, der „böhmischen Marie“. Der Förster Maywald beobachtete diese drei in der Wirtsstube, wo es lustig herging (es war in der Felsenschenke). Der lange Johannes Eichler war als Wilddieb und Spitzbube in der Umgebung bekannt. Die „Böhmischen“ waren augenscheinlich nicht zur Kirmes nach Kiesewald gekommen, sondern um zu wildern!

Es kam zwischen dem Förster und den drei Fremden zu einem Wortwechsel, in dessen Verlauf Maywald die letzteren aus seinem Revier verwies. Er hatte aber keine Ruhe, besonders da er im „Erlicht“ einen prächtigen Achtzehnender wußte. Am nächsten Morgen um 5 Uhr ging er in den Wald.

Schon um 6 Uhr führten zwei Männer aus Kiesewald den Förster, blutüberströmt ins Forsthaus heim. Seine Frau saß gerade mit dem vierjährigen Jungen am Frühstückstisch. „Ängstigt euch nicht, ich werde nicht sterben“, waren Maywalds letzte Worte, dann wurde er besinnungslos. Abends gegen sieben Uhr starb er, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Wie die Verletzungen zeigten, ist er mit seiner eigenen Doppelbüchse erschlagen worden. Die Waffe selbst blieb verschwunden; wahrscheinlich haben die Wilderer sie mitgenommen.


Der lange Eichler soll später als „Pascher“ in die Schneegruben gestürzt sein, während den Andreas Hallmann ein wütender Ochse umgebracht haben soll. So erreichte die Mörder – trotz langer Zuchthausstrafen haben sie niemals ihre Tat eingestanden – doch noch ihr verdientes Schicksal. So kündet jener Gedenkstein von treuer Pflichterfüllung und selbstlosem Einsatz des Gräfl. Schaffgotschen Revierjägers.


Es ist uns leider nichts über den Zustand dieser steinernen Zeugen aus alter Zeit bekannt. Manches Kreuz mag sich in den vergangenen zwölf Jahren noch tiefer geneigt haben, und die Mehrzahl von ihnen wird völlig vom Gestrüpp und neu heranwachsenden Wald verschlungen werden. Und sollte es uns vergönnt sein, eines Tages in unsere schlesische Bergwelt zurückzukehren, dann würden alle verantwortlichen, um Denkmalschutz bemühten Wanderer ein reiches Betätigungsfeld vorfinden.



Aus „Schles.Bergwacht“, SB57/N35/S620