- - - - das ist die Rasenbank am Elterngrab“

von Reinhold Bochnig (1954)



Es gibt eine Frage für uns Heimatvertriebene, die schwer und bedrückend ist. Sie ist unlösbar mit dem Erinnern an unsere alte Heimat verknüpft, sie greift tief und schmerzend auch in unser aller persönliches Erinnerungsgut ein, wenn wir sie uns stellen, reißen die Wunden von neuem auf.

Es ist die Frage: Was ist aus den Gräbern unserer Lieben in der alten Heimat geworden?

Die Antwort darauf ist uns allen klar. Sie ist doppelt schmerzlich, weil wir nichts, aber auch gar nichts dazu tun können, daß sie einmal beruhigender, freundlicher ausfiele.

Wenn ich jetzt etwas über die Friedhöfe in unserer Heimatstadt Hirschberg erzähle, so skizziere ich damit ein Bild, das mit kleinen Abweichungen, wohl für alle Friedhöfe in den polnisch verwalteten Gebieten zutreffen mag. Allerdings muß dabei ein grundsätzlicher Unterschied gemacht werden; der Zustand der Friedhöfe ist wesentlich davon abhängig, ob sie seit dem Zusammenbruch unbenutzt blieben, oder ob auf ihnen von Polen beerdigt wird.

Die ersteren befinden sich in einem trostlosen Zustand der Verwilderung, einer Verwilderung, die mehr und mehr zunimmt. Ich denke dabei besonders an Friedhöfe in Breslau, die kaum noch betrieben werden. Im Jahre 1948 wollte meine Frau auf einem Friedhof in der Menzelstraße in Breslau die Elterngräber aufsuchen. Randgräber an einem Hauptwege. Sie waren nicht mehr zu finden, denn Wege und Gräberfelder waren eine undurchdringliche Wildnis von Sträuchern und Stauden.

Wesentlich besser steht es um die Friedhöfe, welche auch von Polen benutzt werden. Hier ist das äußere Bild wenigstens das einer gepflegten Anlage. Wege und öffentliche Anlagen werden gesäubert, gerecht und gejätet, ein Friedhofsverwalter sorgt einigermaßen für Ordnung.

Auf dem Hirschberger Friedhof ist der Verwalter bemüht, zu tun, was nur möglich ist. Obwohl ihm für die Arbeiten nur 5 Arbeiter zur Verfügung stehen, Aber auf die deutschen Gräberfelder erstreckt sich die Pflege nicht. Hier wächst es üppig und ungehemmt, Rosenbüsche haben Wildlingstriebe von riesiger Länge, die den Durchgang zwischen den Gräbern versperren. Lebensbäume und Gehölze breiten sich ungehindert aus, Grabhügel sinken ein, Grabsteine stürzen um und verwachsen. Aber oft findet man inmitten solcher Wildnisse ein oder zwei oder mehr zusammenliegende Gräber, die sorgfältig gepflegt und bepflanzt sind. Ich habe vor solchen Grabstätten immer innerlich erschüttert gestanden, einmal, weil mir die Verwilderung rings um diese Inseln, an denen die sorgende Hand liebender Menschen so deutlich zu erkennen war, um so trostloser vorkam und zum anderen, weil immer der Gedanke da war, wie lange noch, und auch diese Grabstätten fallen der Verwilderung anheim, weil die Menschen, die sich ihrer noch annehmen, den Weg aller gehen müssen, den Weg zum Transportzug. Fast jeder Deutsche, der noch in der Heimat weilen muß, pflegt mit großer Treue Gräber seiner Verwandten und Bekannten, oft sechs und mehr.

Aber bis auf die Verwilderung, die der Natur zuzuschreiben ist, wurden die Gräber auf den Hirschberger Friedhöfen nur wenig angetastet. Die Denksteine stehen noch, wenige nur wurden entwendet. Dagegen wurden manche Hügel abgegraben um Mutterboden für neue Gräber zu gewinnen.

Schlimm steht es dagegen um die Grüfte, die auf allen Friedhöfen , die ich kenne und von denen ich hörte, dasselbe traurige Bild einer pietätlosen Verwüstung zeigen. Särge, die hunderte von Jahre unberührt in ihren steinernen Grabkammern gestanden hatten, wurden nicht nur einmal, sondern im Laufe der Jahre immer wieder von neuem durchgewühlt und nach Kostbarkeiten durchsucht. Die Gier nach Gold und Wertsachen überwog hier die Ehrfurcht vor der Erhabenheit des Todes.

Ein überaus trauriges Bild bietet in Hirschberg der Heldenfriedhof der Gefallenen des ersten Weltkrieges, Obwohl hier ja Soldaten aller Nationen, auch Russen und Polen, unter einheitlichen Grabsteinen ruhen, ist von Polen seit 1945 hier nichts, aber auch gar nichts getan worden, um die Stätten zu säubern und das Wachstum zu hemmen. Der Platz, auf dem die Gefallenen des letzten Weltkrieges ruhen, ist völlig durchsetzt mit polnischen Gräbern. Dagegen sind neue russische Soldatengräber in einer geschlossenen einheitlichen Anlage mit pompösenGrabsteinen auf dem Schmuckplatz vor dem Krematorium angelegt worden.

Das Krematorium wird nur als Trauerhalle benutzt, die Verbrennungsanlage ist außer Betrieb. Die Ausschmückung der Trauerhalle fehlt, Altar und Rednerpult stehen nackt da. Wenn bei einer Beerdigung Ausschmückung verlangt und bezahlt wird, so werden einige kümmerliche Bäumchen und sechs Kerzen aufgestellt, die ungleich lang und verkleckst, nie richtig brennen wollen.

Polnische Gräber sind auf dem ganzen Friedhof einzeln eingestreut, als Randgräber oder an besonders schönen Stellen, geschlossene Gräberfelder, auf denen fortlaufend beerdigt wird, sind in der Nähe des Heldenfriedhofes. Hier werden deutsche und polnische Verstorbene nebeneinander beerdigt. Aber die polnische Friedhofskultur ist anders und uns fremd. Einheitliche Vorschriften über Form und Ausmaße der Grabmale bestehen nicht. Wird ein Pole beerdigt, so bringen die Angehörigen gleich auf dem Leichenwagen das Kreuz mit, welches auf das Grab gesteckt wird.

Mit wenigen Ausnahmen sieht man nur Kreuze als Grabmäler, in jeder Größe und Form, in den Abmessungen meist zu groß und unproportioniert, dazu aus verschiedenstem Material, Holz, Gußeisen, sogar zusammengelötete Wasserleitungsrohre werden verwandt. Sehr beliebt sind Grabsteinfassungen aus Stein oder Zement, die meist von alten deutschen Gräbern genommen werden. Die Grabpflege der Polen läßt viel zu wünschen übrig und viele Gräber sehen trostlos aus. Sie werden meist nur einmal im Jahre, am Allerseelentage gepflegt und geschmückt. An diesem Tage ist der Friedhof übervölkert; zwischen den lichtergeschmückten Gräbern stoßen und drängen sich unendlich viele Menschen. Die verlassenen deutschen Gräber liegen dazwischen dunkel und ohne Schmuck. Und doch zeigt sich auch auf polnischer Seite manchmal ein mitfühlendes Herz. Ich sah rings um ein geschmücktes polnisches Grab verlassene deutsche Gräber gesäubert und mit je einem Licht geschmückt.

Die deutschen Beerdigungen fanden noch immer mit schlichter Feierlichkeit statt. Wer aus der kleinen deutschen Gemeinde es ermöglichen konnte, nahm immer daran teil. Große Kränze schmückten nie den einfachen Sarg, aber ein kleines Sträußlein, und sei es ein selber gepflücktes, legt jeder am Sarge nieder. Ich war immer erschüttert, wenn wir einen der unsrigen auf seinem letzten Wege von der Kapelle zum Grabe begleiteten, im Blickfeld vor uns einen Ausschnitt der stahlenden Schönheit unseres Heimattales mit der blauen Bergwand dahinter. Durch das letzte Stück Hirschbergs führte uns unser Weg, denn rechts und links grüßte uns von den Steinen ein vertrauter Name mit altem heimatlichen Klang um den anderen, oft schon hinter wuchernden Stauden und Unkraut fast verborgen, aber dennoch eine eindringliche Sprache sprechend.

Im Jahre 1950 ist es still geworden in der kleiner und kleiner werdenden deutschen Gemeinde in Hirschberg. Einer nach dem anderen mußte in diesem Jahre die Heimat verlassen, bis auf wenige, die noch festgehalten werden. Und viele deutsche Gräber, um die sich bisher noch sorgende Hände

bemüht hatten, liegen von nun an verwaist und einsam und verwildern langsam wie alle anderen.



Entnommen aus „Schles. Bergwacht“, SB1954/S12