Die „Fremdenbücher“ in den Gebirgsbauden

von M. Neumann


Das „Fremdenbuch“ war in unseren Gebirgsbauden hüben und drüben eine jahrhunderte alte Überlieferung und – auch wenn hie und da zeitliche Unterbrechungen in den Eintragungen festzustellen waren – bis in die heutige Zeit gehegt und gepflegt. Diese schöne Sitte ist auch durch die Vertreibung nicht verloren gegangen. Sie ist beibehalten und besteht allenthalben, wo neue Bauden und Einkehrstätten von unseren ehemaligen Riesengebirgswirten errichtet worden sind, auch heute noch. Um nur e i n Beispiel zu nennen: In der „Kahlrückenalpe“, die in 1200 m Höhe oberhalb Oberschwang im Allgäu von dem Wirt der Wiesenbaude Hans Fuchs buchstäblich aus der Erde gestampft worde ist, liegt seit Jahren ein solches „Fremdenbuch“ aus, das das Kunde gibt von Heimatfreunden, die hier Gast waren.

Die „Fremdenbücher“ mögen nicht immer geistreichen Inhalt aufweisen. Jeder schreibt, was er gerade denkt. Das war schon immer so. Aber sie sind trotzdem eine unersetzlich wertvolle Überlieferung, denn sie geben der Nachwelt auf ihre Weise Einblick in längst vergangene Zeiten. Schon deshalb müssen sie sein und auch bleiben. Sie verraten die jeweilige Gemütsverfassung des Schreibers, erzählen Strapazen und Freuden früherer früherer Bergbesteigungen und nicht zuletzt davon, daß in den früheren Jahrhunderten die Touristik schon da war, erst ganz vereinzelt, dann mehr und mehr zunehmend und trotz ungepflegter Wege und recht bescheidenen Unterkunftsstätten Bestand hatte. Aus den Niederschriften spricht das, was auch wir immer empfanden: Die große Freude über das „Losgelöstsein“ vom Alltag, der in 1400 bzw in 1600 m Höhe seine Wirkung verloren hatte, so das der Wanderer letztlich seelisch und körperlich erholt ins Tal zurückkehrte.

Die „Fremdenbücher“ verraten aber auch noch viel mehr. Sie geben uns Kunde von der großen Liebe zur Bergwelt, wenn sie mitteilen, daß ein schlesischer Winterwanderer während der letzten 15 Jahre (vor der Jahrhundertwende) die Schneekoppe von allen Seiten aus mehr als zwanzig Mal bestiegen hat und ein böhmischer Wintertourist die Zahl der winterlichen Koppenbesteigungen auf über dreißig brachte.

Nachstehend einige Kostproben aus alten Koppenbüchern:

Zuerst geben wir aus dem Lessenthin die Empfindungen des gewiß noch vielen Lesern bekannten Geh.-Rats Dr. Baer aus Hirschberg bekannt, die er an einem Herbsttage im Oktober 1894 ins Koppenbuch schrieb:

Die Wolken hängen tief herab, Die Stürme sausen und brüllen; -

Natur, bald steigst du in dein Grab, Bedeckt mit weißen Hüllen.


Doch eh´ der Schlaf dich übermannt Und eh es geht zum Sterben,

Legst du dir an dein Prachtgewand, Das goldene Tinten färben.


Es ist, als wollte der Lenz die Welt Noch einmal mit Leben durchlodern; Eh´der Blätter Schmuck von den Bäumen fällt und eh sie am Boden vermodern.“


Der Breslauer Buchhändler Hirsch schrieb am 30. Sept. 1882 – den humorvollen Verfasser von Max und Moritz kopierend – nachstehendes lange, nette Gedicht ins Koppenbuch:

Dieses ist ein alter Spruch:

Mensch hast du des Geld`s genug,

dann ist gut es dir und nütze,

Daß du nicht auf deinem Sitze

In der Heimat kleben bleibst

Und die Zeit mit Skat vertreibst!

Einmal kann es dir nicht schaden,

Wenn du deine werthen Waden

Durch das steigen auf und nieder

Fester machst – und dann auch wieder

Wenn dein Sinn nicht ganz gesunken,

Siehst die Welt du freudetrunken,

Und die ganze Herrlichkeit

Macht die Brust dir froh und weit ! -

Dieses alles zwar erwägend,

Doch nicht lange überlegend,

Füllte ich das Portemonnaie

und bestieg die steile Höh´! -

Ach wie schön ist`s und erlabend,

Wenn man sich am frohen Abend

Nach des Tages schweren Werken

Durch Gesang und Wein kann stärken! -

So hatt` ich mir`s ausgedacht,

Ja – Prost Mahlzeit – gute Nacht ! -

Nebel war am ganzen Tage

und der Aufstieg eine Plage,

Und bei dieser schweren Zeit,

Wächst mit Macht die Durstigkeit.

Hier nun auf der höchsten Spitzen

Preußens, wollt´acht Tag`ich sitzen,

Ungestört hier aus dem Himmel

Schaun´auf`s wirre Weltgetümmel;

Eine Friedenspfeife rauchen

Und kein Schreibzeug mehr gebrauchen.

Oben, dacht`ich, hast du Ruh` -

Schrumm – schließt „Pohl“ die Bude zu.

Gerne ist man nicht alleine,

Drum mach` ich mich auf die Beine,

Und mit diesem Vers voll Pracht

Wird dem Buch der Schluß gemacht! -

Nun ist`s Art im deutschen Reiche,

Darin sind wir alle gleiche,

Wenn wer greift zum Wanderstab,

Er `nen Abschiedsgruß giebt ab:

Darum sei auch dieser Klause,

Bleibt der Wirth auch nicht zu Hause,

Glück und Segen, Lust und Freud`!

Einbeschert für alle Zeit ! -

Dies der Wunsch – und nun der Schluß

Viel Vergnügen - - - - - - „Wilhelm Busch“


Andere Schreiber dagegen vertraten die Meinung: „In der Kürze liegt die Würze“. So verewigte sich eine Anonymus im Dezember 1896 mit folgender Eintragung:


Eins hab`ich aus diesem Buch erkannt,

Die hohe Bergwelt schadet dem Verstand.“


Ein Seminarist aus Oranienburg gibt dem Gefühl der „Wurschtigkeit“ am 10. Oktober 1890 folgenden Ausdruck:

Bei deutschem Bier und Ungarwein,

In Wolken, Nacht und Nebel

Dünkt uns der Weltenkram so klein

Trotz Hegel, Ahlwardt, Bebel.“


Der Geheime Calkulator aus Berlin dagegen schreibt:

Oben gewesen,

Romane gelesen.“


Und ein echter Pädagoge kann nicht umhin, auch der Gebirgswelt in seiner Niederschrift eine Zensur zu erteilen. Er schreibt:


Sonnenauf- und Untergang: Vorzüglich,

Aussicht: Befriedigend.“


Auch Familienanzeigen fehlen im „Fremdenbuch“ nicht. So teilt ein Sergenant im Stabe der Kgl. Unteroffizierschule zu Potsdam am 25.Sept. 1896 seine „hohe“ Verlobung mit seiner Auserwählten mit. -

Ein praktischer Arzt aus Oberschlesien berichtet, daß er am 25.Dez. 1895 mit seiner Gattin die Schneekoppe besuchte und den Weihnachtsabend auf der Prinz-Heinrich-Baude still und friedlich beim hellen Glanze eines mitgebrachten Tannenbaumes verträumt hat.


Und nun noch Auszüge von Aufzeichnungen, die von den Tücken des Wetters im Gebirge berichten:

Von den Stürmen im Riesengebirge gibt die Eintragung eines Touristen Kunde, welcher am 4. Jan. 1897 beim Aufstieg von Wolfshau durch den Melzergrund „am Anfang der Serpentinen das völlig zerknitterte und zusammengedrückte Blechdach der Photographenbude der Riesenbaude fand, welches der Sturm in der Sylvesternacht hierher gebracht.“


Hüten – Herren- und Damenhüten – welche der Sturm den aufsteigenden Touristen entführte, um ihnen im Melzergrund ein ruhiges Plätzchen zu sichern, widmen mehrere beredte Klagen im Fremdenbuch ein treues Gedenken.“

Aber auch interessante Naturerscheiningen werden im Fremdenbuch erwähnt und somit der Nachwelt mitgeteilt:


So fand Herr von Faltis am 20. Okt. 1893 in der Nähe der Blauhölle eine blühende Primula minima; am 22. Dez. 1893 erlebte er beim Aufstieg zur Koppe das interessante Schauspiel zweier getrennter Nebellagen, deren eine in 1300 bis 1500 m, die andere in einer Höhe von 2000 m lagerten.“


Das im Sommer wiederholt, im Winter selten wahrgenommene sogenannte „Brokkengespenst“, den von der Sonne auf die unter dem Wanderer lagernde Nebelschicht geworfenen Schatten beobachteten am 4. Jan. 1896 mehrere Mitglieder des Breslauer akademischen Turnvereins in unserem Gebirge.“


Auch über die Länge der Wege enthält das Fremdenbuch gewissenhafte Angaben: Ein Herr aus Liegnitz, ein ständiger Winterbesucher der Schneekoppe, teilt mit, daß „die durch den Pedometer (Schrittmesser) genau festgestellte Entfernung vom Gasthaus „Zur Schneekoppe“ in Krummhübel bis zu den Koppenhäusern über den Gehängeweg 16 800 Schritte beträgt.“


Diese Eintragungen – es sind nur Auszüge – ob klug oder weise oder ob schlicht und einfach, sind dazu angetan, den Leser beim Studium dieser Zeilen in jene Zeit zurückzuversetzten, ihn mit jener Zeit vertraut zu machen und zwar so plastisch, daß er glaubt, die einzelnen Personen vor sich zu sehen, mit ihnen zu wandern, mit ihnen alles zu erleben, ganz abgesehen von der Wichtigkeit solcher Überlieferungen an sich. Und in 100 Jahren wird es unseren Nachkommen vielleicht ebenso ergehen, wenn sie von den sich stetig steigenden Wintersportveranstaltungen, den sportlichen Wettkämpfen mit Ski und Rodel, dem immer noch existierenden Hörnerschlitten und vielem anderen mehr lesen. Sie werden alles, auch das, was heute nichtig erscheint, mit dem gleichen Interesse verfolgen, wie wir es heute tun.


Die Eintragungen in die Fremdenbücher so gesehen, können wir uns dem ärgerlichen Erguß Goethes – mit dem er sich übrigens im Fremdenbuch des „Brockens“ verewigt hat – über den wenig ergötzlichen Inhalt des damaligen „Fremdenbuches auf dem Brocken“ nicht hundertprozentig anschließen. Er schrieb:


Was les`ich hier, Gott steh mir bei,

Verfluchen möcht`ich alle Tinten

in ekler Federklexerei.

Harzriese, laß dein Fremdenbuch

Dir nicht vom Stumpfsinn ganz verklexen.

Und mußt du dulden matten Lug

Verhunzter Seelen, dann, ihr Hexen,

Nehmt zur Walpurgis euren Besen

Und fegt, als wär`er nie gewesen

Den Wischwasch aus dem Fremdenbuch.“

Abschrift v. W.Schön, Mail: genealogie@wimawabu.de 25.03.08