Der alte Wohnturm in Boberröhrsdorf
von H. Stiesch (1955)
Mitten in einem Talkessel des Bobers liegt auf einem künstlichen Hügel der alte Wohnturm von Boberröhrsdorf. Ausgrabungen, kunsthistorische und architektonische Nachprüfungen bestätigen die Annahme, daß der Turm, im Zuge der allgemeinen schlesischen Burgen- u.Befestigungsbauten des Mittelalters, um 1200 erbaut wurde.
Keine Urkunde verrät den Erbauer noch ein Wort über die unendlich mühsame Errichtung eines derartigen Klotzes von ca. 20 m Mauerhöhe und einer Grundfläche von ca. 360 m². Die Mauerstärke beträgt im Keller fast 3 Meter und nimmt bis zum Dach auf rund 1 Meter ab. Die einzelnen Geschosse ruhen auf ungef. 15 m langen Balken mit einem Durchschnitt von 40 cm und einem gegenseitigen Abstand von 50 cm. Auf diesen Balken liegt eine Knüppelverschalung, auf die ein Lehmstampffußboden und jetzt Bretterdielung darüber aufgebracht sind.
Selbsverständlich sind die Jahrhunderte seit seiner Erbauung nicht spurlos vorüber gegangen. Die maßgebliche Veränderung verdanken wir der Renessance (um 1600), die dem Turm sein heutiges Aussehen verlieh. Aufbau des Schindeldaches, Durchbruch der breiten Fenster, ehemalige Täfelung der Decken in den oberen Sälen.
Die riesigen Ausmaße des Turmes aus Naturstein und das Schindeldach aus 13 m Höhe sind erst richtig erkennbar, wenn man erst unmittelbar vor ihm steht und dann seine riesigen Räume, die man von außen nicht ahnt, besichtigt.
In den Jahren 1936/37/38 nahm sich die schlesische Denkmalpflege des Turmes an, um den beginnenden Verfall aufzuhalten, und setzte ihn in mühevoller, liebevoller Arbeit wieder instand, um der Öffentlichkeit ein kostbares Dokument schlesischer Geschichte zu übergeben.
Wenn wir durch den kleinen Turmhof zu dem gotischen Eingang an der Linde gehen, kommen wir in das erste Stockwerk mit noch heute? vom Gut bewirtschafteten Räumlichkeiten. Durch ein erneuertes Gittertor steigen wir zum zweiten Geschoß empor, das nach seiner Wiederherstellung uns die verschiedenen Bauepochen zeigt.
Aus den Bauzeiten stammen die geschwärzten Deckenbalken, die Wandnische unter der Treppe, ehemaliger Ausgang zu dem an der Außenmauer auf Tragsteinen ruhenden Abort. Die Anlage des Kamines ist wohl auch ursprünglich. Die gesamten Treppenaufbauten in diesem Raum, wie überall, sowie die unter einem starken Lehmverputz freigelegte Schrotholzwand und die Durchgangstür darin, stammen aus der Renessancezeit oder sind jetzt, nach alten Vorbildern, im Turm erneuert worden.
Die Unterzüge, die zur Unterstützung der Balkendecken in diesem Raum, wie im Turm überhaupt, eingezogen wurden, stammen ebenfalls aus dem 17.Jahrh., als man das hohe Dach errichtete, um die freitragenden Deckenbalken zu entlasten.
Ueber eine weitere Treppenanlage steigt man nach dem sogenannten Freskensaal hoch. Den Ausdruck eines Festsaales betonen in diesem Raum neben den Wandgemälden die tiefen Fensternischen mit gotischen Fensterbögen und breiten Steinbänken. Um sich den etwas merkwürdig erscheinenden Abschluß der Bilder an der linken Seite zu erklären, muß man sich dort den Anfang einer Trennwand vorstellen, die bis in die Mitte des Raumes reichte und an die Nebenwand im rechten Winkel zurückging, sozusagen die zurückgesetzten Mauerteile umschloß. Vielleicht hatten wir hier ein Treppenhaus vor uns. Brandspuren in der halben Höhe der Wand weisen auf irgendwelche Holzaufbauten hin. Die Wandnischen hatten die gleiche Funktion, wie dieselben im unteren Stockwerk.
Die Wandgemälde sind nach ihrer Herstellungstechnik keine Fresken. Es sind sogenannte KalkKasein- Seccomalereien, das heißt mit vorher genanntem Bindemittel auf trockenen (secco) Putz gemalt.
In der Gesamtwirkung erwecken die Malereien den Eindruck farbig gewebter, alter Wandteppiche.
Man kann sie, ihrem Sinn nach, in drei Gruppen teilen:
Der Mittelteil in erdgrüner und roter Umrahmung stellt, auf blau erscheinendem Grund, eine überlebensgroße Heiligenfigur dar. Entgegen der früheren Annahme, daß es sich um eine Madonna mit Kind handele, stellte man nach der Restaurierung und nach eingehender kunsthistorischer Betrachtung fest, daß hier ein Christophorus, der Schutzheilige einer Wasserburg, abgebildet ist. Trotz der graziösen, weiblichen Haltung, eine Modeerscheinung der entsprechenden Malereien um 1320 (Datierung der Malerei), lassen die männliche Haartracht und die hochgeschürzte Kleidung auch den Laien einen, allerdings bartlosen, Mann, entgegen der überlieferten Darstellung eines Christophorus erkennen.
Der linke Teil der Wandbilder übermittelt uns einen belehrenden Inhalt. Unter der Andeutung einer gotischen Bogenarchitektur stehen zwei Paare, die in Haltung und Handbewegungen auf heute schwer entzifferbare Schriftbänder weisen. Das linke Paar ist verheiratet, die Frau trägt neben einer fraulichen Tracht, die Haube. Das zweite Paar ist verlobt, das mädchenhafte Übergewand und das Kränzlein im Haar. (Deutung nach Prof. D. Frey).
Darunter ist die gleiche Zahl Figuren in erdiger Farbgebung als Tote, mit je einem grabähnlichen Schriftband begrenzt, dargestellt. Über diesem gesamten Bildteil sind Reste einer Beschriftung erkennbar mit den Worten: „HOKZIT“ und „Minel Dinar“ über den entsprechenden Figurengruppen.
Rechts an das Mittelbild anschließend bewegen untereinander gemalte Bildstreifen sich nach der Nebenwand, und werden von einer Fensternische untebrochen. Die Fensternische ist mit einem grau- rot- grün getönten in Blattform geschlungenem Bandmuster umrahmt.
Diese Bildstreifen sind Schilderungen des Ritterlebens bzw. der Rittersage in sehr lebhafter Formgebung.
Auf dem oberen Band sitzt ein Ritterfräulein, vielleicht eine Herzogs- oder gar Königstochter unter ihrem Gefolge in einem mit Wehrtürmen umgebenen Burghof. Zwischen den Türmen sieht man eine Kirche mit Türmen und einem Radfenster am Giebel. Die Brautwerber, in lange, quergestreifte Gewänder gekleidet, und mit dem sogen. französischen Haarschnitt stehen mit lebhaften Gesten vor der Braut. Die letzte dieser Figuren trägt das Schwert des Ritters. In dem nun hier anschließenden Hochzeitszug sind die Frauen in grünlich getönte, kuttenähnliche Gewänder gekleidet. Sie reiten auf weißen und braunen Pferden, ebenso die Ritter, die in Panzerhemden dargestellt sind. Der Abschluß dieser Bilderreihe ist der Empfang der Braut durch den Bräutigam.
Nun die Bilder darunter. Wahrscheinlich die Schilderung einer damals modernen, aber heute nicht mehr daraus lesbaren Rittersage.
Ein Ritter mit einem rotbraunen Überhang und Kapuze sitzt auf einem nur teilweise sichtbaren braunen Pferd. Er bläst scheinbar in ein Horn, dies ist nicht deutlich festzustellen. Er führt einen gesattelten aber unbemannten Schimmel. Die stilisierten Nadelbäume sollen einen Wald andeuten. Unter einer sorgfältig gezeichneten und typisierten Linde liegt ein Ritter auf einer Bodenerhebung. Er ist mit seinem roten Mantel zugedeckt. An nahestehenden Bäumen hängt eine Schwert, sein Schild und der Helm mit einem Hund oder Fuchs als Helmzier. Ein zweiter Ritter, dessen Gesicht zerstört ist, scheint ihn wecken zu wollen. Daran schließen sich die Köpfe zweier weidender Pferde, und auf einer Bodenerhebung sitzt einer in Schlafstellung. Er faßt mit der linken Hand nach dem Fuß, während die rechte Hand auf das Schwert gestützt ist und sein Kopf darauf ruht. Ein völlig waffenloser Reiter hebt zum Gruß oder abwehrend seine Hand. Ein zweiter Ritter, man beachte die gleiche Helmzier, wie bei dem unter dem Baum ruhenden, zieht ein Schwert oder steckt es ein. Nach der Unterbrechung durch die Fensternische sehen wir das Schlußbild dieses Streifens.
In der Fensternische sind auf jeder Wandseite 3 Figuren mit Heiligenscheinen und Schriftbändern gemalt. Die Annahme, daß es sich hier um Figuren aus dem Testament handele, bestätigen zwei einander gegenüberstehende Gestalten, deren Texte auf den Schriftbändern (weiß) wie folgt lauten:
(links) Jeremia, (rechts) Jesaia. An der Fensterwand neben der Fensteröffnung sehen wir zwei figürliche Darstellungen mit Kronen, ein in Spitzbogen um die Fensteröffnung geführtes Schriftband trägt (links) den Namen Salomon und (rechts) David. Die Decke der Nische ist ebenfalls farbig gestaltet und zwar mit Architekturandeutungen, aus denen wir links und rechts gotische Türme mit Rosettenknauf und Gebäudegiebel erkennen können, der Mittelteil, sicher eine Figur, ist zerstört.
Man kann wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß die Zeichnungen und flüchtigen Skizzen an der Nebenwand Anfangsstadien einer weiteren Ausgestaltung des Raumes sind. Der mittelalterliche Künstler ist sicher durch irgendeinen uns unbekannten Zwischenfall gehindert worden, den Saal fertig auszumalen. Vielleicht ist er auf die Schlachtfelder um Liegnitz geeilt, um gegen die Scharen eines Dhingis-Khan zu kämpfen und dort gefallen. Damit wäre allerdings der fixierten Datierung der Malerei um 100 Jahre vorgegriffen.
Deutlich und mit gekonntem Schwung konturierte Turnierreiter ohne Lanzen, bewegte Reiterfiguren und einen Ritter mit einem Riesen bilden den Anfang zu einer Reihe in einer Art Fettkreide gezeichneten Skizzen, die sich mit Helmzieren und Pferden befassen. Diese Reste vermitteln uns ein Bild von der Arbeitsweise dieser Zeit.
Eine Fensternische gegenüber den Wandmalereien ist mit Resten alter Wappenmalereien ausgestattet. Das Wappen mit einem Rad und der Helmzier, einem Rad, kann man wohl der Familie „Rädern“ zusprechen.
Man muß sich erst eine Weile in die Darstellungsweise und die Farbwahl hineinfühlen, um festzustellen, mit welch einfachen Mitteln ein vielsagender Eindruck und Geschlossenheit erzeugt wird.
Als Farben kamen nur damals bekannte, kalkechte Erdfarben in Betracht: Bergblau, grüne Erden, Ocker natürlich (gelb) und gebrannt (knallrot), Siena nat. (gelbbraun) und gebrannt (braunrot) sowie Schwarz und Kalk als Weiß.
Auf den, Steinstufen nachgeahmten und aus einem Lindenklotz gehauenen, Holzstufen steigt man zu dem oberen Saal, dem vierten Stockwerk hoch. An der Decke gegenüber dem Treppenloch sind von späterer Zerstörungswut übriggebliebene Reste einer Kassetendecke aus der Renessance. Der wuchtige Eindruck des Saales wird durch die große Zahl der Deckenbalken erhöht, auf denen die gewaltige und kühne Konstruktion des spitzen Schindeldaches lastet.
Wenn man im Dachgeschoß steht, sieht man erst die beängstigende Höhe und Steilheit des Daches, die wohl unter anderem zur Abwehr der winterlichen Schneelast gewählt wurde. Bemerkenswert ist die Ausführung der auf Druck und Zug gesicherten Holzverbände, die heute nicht mehr geführt wird. Zwischen den Fenstern sind die später zugemauerten Zinnen noch deutlich zu sehen. Man nimmt an, daß der Turm vor der Renessancezeit kein Dach besaß.
Es ist sicher interessant festzustellen, daß der Turm in seiner Längsachse genau in der Ost-Westrichtung steht.
Blicken wir nun aus dem kleinen Fenster an der Westseite, so sehen wir auf den Bober, wie er im Bogen um die Bleiche mit ihren Fachwerkhäusern fließt und hinter den Hügeln im Stau von Boberullersdorf verschwindet.
Durch die zahlreichen Südfenster schweift unser Blick über den Gutshof mit seinem uralten Linden über die Boberbrücke nach der Turmsteinbaude und den bewaldeten Höhen der Sattlerschlucht.
Sehen wir nun durch die Ostfenster, so liegt unter uns der Anfang des Wallgrabens, dahinter Teile des Dorfes, und unser Blick wird durch die Grunauer Fliegerberge aufgehalten, um die wir an schönen Tagen die silbernen Vögel kreisen sehen.
Und über einen weiteren Teil des Wallgrabens sehen wir durch die Nordfenster über eine Ebene bestellter Felder in der Richtung nach der Talsperre Mauer und Lähn.
Am Fuße des Turmes machte die schlesische Bodendenkmalpflege Ausgrabungen, um an Hand von Bodenschichtungen und Scherbenfunden die bewohnte Zeit des Turmes festzustellen und sonstige Anlagen freizulegen. Dabei stieß man auf Reste einer Wehrmauer, und Lehm-und Holzmoder ließen evtl. auf einen auf der Mauer sitzenden Wehrgang schließen. Man fand auch eine steinerne Schießscharte, die in einer Nische im Freskensaal eingemauert ist.
Es ist leicht verständlich, daß so ein Gemäuer ein willkommener Nist- und Aufendhaltsplatz für die Vogelwelt ist. Sperlinge führen ihr lärmendes Dasein in den vielen Mauerlöchern und den Dohlen sind sie ebenfalls eine willkommene Behausung. Im Sommer kreisen die Scharen der wendigen Mauersegler um den alten Turm und sie purzeln schrill schreiend durch die Luft, wenn sich einmal ein Sperling hierher verirrt. In der Nacht schreien die Käuze in den nahen Bäumen oder sie vollführen lustige Sprünge auf dem Dachfirst.
In den stürmischen Tagen und Nächten knarrt und ächzt das Dachgebälk und der Lehm rieselt fein durch die Deckenbalken. Manchmal fällt ein großer Brocken, daß es im ganzen Turm poltert. Da fährt man unwillkürlich zusammen, und die Leute sagen: „Es schreckt!“
Entnommen aus: „Schles.Bergwacht“ 1955