Aus Seidorfs Vergangenheit

von W. Matzke


Gar viele ältere Dorfbewohner werden sich noch entsinnen, daß in den achtziger/neunziger Jahren eine strenge Grenzkontrolle für die oberen Randdörfer unseres Gebirges bestand und die sog. Grenzjäger in ihrer grünen Uniform mit geschultertem Gewehr oft eine mehr als strenge Überwachung der Wege durchführten.

Wollte man z.B. irgend einen bestimmten Gegenstand von einem Dorf zum anderen schaffen, bedurfte es eines sog. Passierscheines, welcher außer dem Namen die Art des zu transportierenden Gegenstandes und die genaue zu beanspruchende Aufenthalts-und Wegezeit enthalten mußte. Für Seidorf war, als austellende Behörde, der damalige Standesbeamte Hermann Worbs zuständig. Wollten also die damals zahlreichen Seidorfer Weber ihre Erzeugnisse zwecks Ausrüstung in die Schmiedeberger Peschel`sche Appretur- und Bleichanstalt bringen, bedurften sie eines Passierscheines für den Hin- und Rücktransport. Verzögerte sich die Rückkehr und die Zeit lief – wenn auch oft nur zehn Minuten, bevor der Heimatort erreicht werden konnte, auf dem ausgestellten Schein ab - , mußte man ihn vorher in Schmiedeberg verlängern lassen. Je nachdem, welchem Grenzer man in die Hände fiel, die oft hinter Sträuchen versteckt am Wegesrand lauerten. Es gab welche, die kannten kein Erbarmen. Auch mir passierte einmal der Fall, als ich als Schuljunge einen Ballen Damast nach Schmiedeberg schaffen mußte, daß ich auf dem Rückweg bei dem Arnsdorfer Galgen angehalten wurde und, da der Schein vor zehn Minuten abgelaufen war, zurück nach Schmiedeberg zur Vernehmung mitgenommen wurde. Schikane konnte man es nennen.

Diese scharfe Grenzwacht war wohl größtenteils wegen des aus dem Böhmischen über den Kamm herüber gepaschten (geschmuggelten) Süßstoffs. Viele ältere Leute werden noch wissen, daß manche Leute seinerzeit dadurch zu großem Wohlstand gekommen sind, sich aber auch verschiedene Dramen abgespielt haben, weil Wildschützen mit Grenzern zusammengestoßen sind.

Im großen und ganzen sind wohl aber nicht allzuviel größere Verbrechen durch Überfälle in all den Jahrhunderten im deutschen Riesengebirge vorgekommen. Die Wege selbst ins Hochgebirge waren bis in die achtziger Jahre nicht besonders gut und der Touristenverkehr recht spärlich. Wer das Gebirge besteigen wollte, nahm sich einen Führer mit und viele ließen sich im sog. „Koppenstuhl“ von zwei Mann hinauftragen. Eine bestimmt nicht leichte Arbeit!


Der Auszügler Franz Kraus aus den Krausebauden kaufte im Jahr 1866 das in Ober-Seidorf gelegene „Gasthaus zum Riesengebirge“, erweiterte es durch Anbau eines Tanzsaales, wie er unter einem späteren Besitzer noch bei der Vertreibung vorhanden war, und richtete einen kleinen Krämerladen ein. Die Waren hierfür mußten mittels eines kleinen Pferdewagens aus der Kreisstadt Hirschberg herangeholt werden. Sehr schwer war es damals, Tanzerlaubnis zu erhalten. Da Seidorf mehrere Gaststätten mit Tanzsälen hatte und im Dorf nur alle vier Wochen Tanz sein durfte, dauerte es recht lange, bis alle Gasthäuser damit durch waren.


Auch das letzte Haus in der Kolonie Raschken, auf dem sog. Grünen Plan, war in den siebziger Jahren Gasthaus. Es nannte sich „Waldschenke“. Der Besitzer Ferdinand Finger war aber ein übel beleumundeter Mann. Eine geschickt angelegte Falltür zu einem Gewölbe soll mit beigetragen haben, daß Reisende wohl eingekehrt, aber nie mehr herausgekommen sind. Die Gerichtsbarkeit war zu damaliger Zeit recht schwach und als man einmal meinte, zugreifen zu können, zog Finger einen Freitod allem anderen vor. Erwähnt sei noch, daß die Brodbaude das letzte Haus von Seidorf nach dem Gebirge hin war.


Da der Gastwirt Kraus auch Raststätten im Hochgebirge aus seinem Krämerladen versorgte, so schickte er kurz vor Ausbruch des Siebziger-Krieges einen Boten mit Waren zur Hampelbaude. Die Waren waren abgeliefert und der Bote erhielt das Geld, er ist aber nie mehr in Seidorf eingetroffen. Inzwischen kam der Siebziger-Krieg und nach der Beendigung desselben hat sonderbarerweise ein Mann aus einem Nachbardorf den blauen Mantel des nie wiedergekommenen Boten getragen.


Die älteren Seidorfer Einwohner werden sich auch noch entsinnen, daß schon immer die amtliche Fleischbeschau der Gebirgsbauden, als zum Seidorfer Amtsbezirk gehörig, seinerzeit durch den Besitzer der Tirolerstelle Nr. 4 Herrn Wilhelm Friedrich ausgeführt wurde. Hoch zu Ross auf seinem Schimmel ritt er stets dem Ort seiner Amtshandlung entgegen. Hatte er seines Amtes gewaltet, so wartete er stets hoch da oben, bis die ersten Wellwürste fertig waren, um auch diese privat persönlich begutachten zu können. Einen alten Korn verachtete er dabei auch nicht gerade. Gut mit ihm bekannt, hat er mich einmal auf seinem Schimmel als Schuljunge mitgenommen. Eines Unwetters halber erfolgte aber die Rückkehr am anderen Tage so spät, daß ich wegen Schulversäumnis unter Kantor Weigel eine Strafarbeit machen mußte, die folgendes Thema hatte:

Schmeckt Wellwurst im Hochgebirge besser als unten im Tal?“


Solche Begebenheiten vergißt man so schnell nicht und viele Seidorfer werden heute noch wissen, daß P. Weigel kein Guter war, aber tüchtig in seinem Beruf.



Entnommen aus „Schles.Bergwacht“, SB60/N06/S102

Erstellt v.W.Schön,e-Mail:genealogie@wimawabu.de 17.10.2006